Kundlkraut und Widritat

Im Tirol wie im nahen Salzburgischen geht eine Sage vom würzigen Feldthymian (Thymus serpillum), welcher im Volke unter der Benennung "Kundlkraut" hoch gehalten ist. Das Kraut ist der Heiligen Jungfrau Maria zu eigen und geheiligt und daher ein wahres Heilkraut. Die Heilige Jungfrau machte sich nämlich bei ihrer Vermählung mit dem heiligen Joseph ein blühendes Kränzlein aus diesem bescheidenen Kraute, daher hat dasselbe so große Kraft, und noch immer brauchen es die Jungfrauen im Unterlande und im daranstoßenden Salzburger Lande zu Kränzen oder stellen es, zum Schutz gegen den Bösen, in die Fenster ihrer Schlafkammern; denn nicht selten schon ist der Böse in Gestalt eines grünen Jägers zu den Dirnen fensterln gegangen, hat angeklopft, und die, welche ihm auftat, durch die Lüfte auf und davon geführt. Fast gleich heilsame Wirkung hat auch nach dem Volksglauben nicht nur in benannten beiden Ländern, sondern auch im übrigen Deutschland der "goldene Widertod" gewöhnlich "Widerton" (Polytrichumcommune), den man volksmündlich "Widritat" nennt.

Einmal lebte an der Salzburger Grenze in einem der neun einsamen Bauernhöfe bei Strub eine Näherin, die war über die Maßen eitel und hoffärtig, kein Kleid war ihr zu gut und prachtvoll genug; am liebsten wäre sie in Silber- und Goldstoff einhergerauscht, wie eine Prinzessin; dafür aber war die Näherin auch in der Tat so schön wie eine stolze Tulpe, und es bewarben sich viele Buben von nah und ferne um ihre Liebe. Allein sie wies alle mit Hochmut zurück, denn keiner von allen schien ihr vornehm genug gekleidet zu sein. Da kam von weit her ein fremder Bursche, der trat für den Sommer bei einem Bauern in der Nachbarschaft als Knecht in den Dienst. Er übertraf durch seine schmucke Gestalt alle Buben, soviel auch der Näherin unter die Augen gekommen waren, und sein G'wand war verschwenderisch genug: die Jacke vom feinsten Tuch mit großen Silberknöpfen und um den Hut die goldene Schnur. Das funkelte der eitlen Näherin so tief ins Herz, daß der fremde Bub am Morgen ihr erster und nachts ihr letzter Gedanke war, und sie kamen auch bald überein, mitsammen fortzuwandern in die weite Welt, wo sie unbelästigt von ordentlichen Bauersleuten und den Vorwürfen ihrer Mutter, welche mit ihr die Stube teilte, in Saus und Braus und Lustbarkeiten - sie nannten es "für ihre Liebe" - leben könnten, und die Nacht wurde bestimmt, in welcher der schmucke Knecht die schöne Dirne abholen sollte. Aber der Mutter war dieser Mensch von jeher zuwider gewesen, seine schwarzen glühenden Augen und das Unheimliche an ihm machten sie immer erbeben, wenn sie seiner ansichtig wurde. Doch wenn sie ihre Bedenken der Tochter mitteilte, lachte diese darüber nur oder wendete sich unwillig weg. Da also nichts fruchtete, so befestigte die Alte vor dem Fenster ihrer Wohnung frisches Kundlkraut und Widritat und dachte sich dabei: Nützt's nicht, so schadet's nicht, und die Alten waren auch keine Narren, und der liebe Gott und die Heilige Jungfrau haben das Vertrauen nie zu Schanden werden lassen. Und wie der Knecht um Mitternacht seine Näherin abzuholen kam, blieb er in einiger Entfernung stehen und fuhr flammend durch die Luft und schrie:

Kundlkraut und Widritat ;
Hab'n mi um d' Nahd'rin braht!

Das hat ein Mann gehört und gesehen, der die Nacht durch botenweise gehen mußte, und so ist's offenbar geworden. Dieselbe Sage geht auch wörtlich, so wie hier steht, im Zillertale volkstümlich um, nur mit der kleinen Abweichung, daß die Mutter der Näherin selbst den Bösen gesehen und gehört hat.

Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 8.