Die heilige Kümmernis bei Riednaun [Ridnaun]

Man findet in Tirol in den ältesten Kirchen ein Kümmernisbild; dieses stellt eine Jungfrau mit einem großen Barte dar, auf einem Kreuze hängend, so daß man das Bildnis für einen Christus am Kreuz - der sehr bärtig dargestellt ist - halten müßte, wenn nicht alles andere daran deutlich zeigte, daß es eine weibliche Gestalt sei. Eine bekannte Volkslegende, welche jedoch häufig verschiedenartig erzählt wird, zumal es auch außerhalb Tirol der St.-Kümmernis-Bilder viele gibt, läßt die Jungfrau, welche eines Heidenkönigs Tochter gewesen sein soll, wegen sündiger Liebe ihres eigenen Vaters zu ihr zu Gott flehen, sie ihrer körperlichen Reize zu berauben. Darauf sei ihr ein Mannsbart gewachsen, und deshalb oder auch, weil sie Christin geworden, habe der Vater ihr den Kreuzestod bereiten lassen, nur daß sie bekleidet starb. Ein armes, sehr armes Geigerlein spielte ihr ein Trostlied in ihrem seligen Absterben; da warf sie ihm ihren goldenen Schuh als Belohnung hin. Als das Geigerlein den Schuh verkaufen wollte, wurde es für einen Dieb angesehen und zur Richtstätte geführt, hart am Kreuze vorbei, an dem die schuldlos gestorbene Kümmernis hing. Da warf diese dem armen Mann auch ihren zweiten, goldenen Schuh zu, und daran erkannten nun Richter und Volk des Geigerleins Unschuld. Nachher sind, ohne daß eine eigentliche Heiligsprechung der Jungfrau Kümmernis vom päpstlichen Stuhle aus erfolgt ist, doch vielfach St.-Kümmernis-Bilder errichtet worden. Im Tale Riednaun bei Sterzing steht auf luftiger, wundersam stiller Höhe ein kleines, uraltes gotisches Kirchlein, "St, Magdalena in Riednaun" geheißen, sehr merkwürdig wegen seines Alters (auf der Mauer steht die Jahreszahl 1481), im Innern viele Merkwürdigkeiten aufweisend. Das Kümmernis-Bild in diesem Kirchlein ist auf den Fahnenkasten gemalt. Die bärtige Jungfrau hängt nur mit den Händen am Kreuze; die Füße schwanken frei. Davor kniet ein Musikus mit der Geige; ihm zur Seite liegt ein goldener Schuh. So ist auch sonst überall die Darstellung dieser Bildnisse, obschon die Geschichte vom Geiger und dem goldnen Schuh auch von einem Bildnis der Heiligen Jungfrau Maria wie auch von der heiligen Cäcilie erzählt wird.

Ein sehr zartes und gut erhaltenes Kümmernis-Bild ist neben einem heiligen Christoph an der Wand eines Hauses zu Kompatsch bei Naturns im Vintschgau befindlich. Künstlerisch schön und ebenfalls gut erhalten, steht ein solches Bild von Stein auf der Brücke an einer vormaligen Kapelle bei der Stadt Saalfeld in Thüringen. Ferner befinden sich solche Bilder zu Eitersdorf bei Erlangen, zu Gmünd in Schwaben, zu Wien, zu St. Leonhard bei Dillingen und Steinheim, auch im Dom San Marco zu Venedig. Man nennt diese Darstellung auch St.-Gehilfen-Bilder, und von manchen werden sie dennoch für Kruzifixe gehalten. So ist zu Saalfeld die Schrift eingemeißelt: Sankt Salvator. Offenbar eine spätere Zutat aus Irrtum.

Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 315.