Geist des Gerichteten

Es ist in Tirol, und namentlich im Ober- und Unterinntal, ein allgemeiner alter Volksglaube, daß jeder Geist eines Hingerichteten am andern Tage dem Geistlichen, der ihn zum Tode begleitet und vorbereitet habe, erscheine und ihm andeute, wie es ihm im Jenseits ergehe. Ja selbst ohne ein wirkliches Erscheinen des Geistes nähme der Geistliche den größeren oder geringeren Grad der Seligkeit wahr, den der Gerichtete genieße, indem, wenn der Priester zum Seelenheile des Hingerichteten das heilige Meßopfer verrichte, der Kelch leicht sei, wenn der Zustand jenes Gerichteten ein seliger, aber schwer und immer schwerer wurde, je unseliger der Geist sich befinde.

Mit diesem Glauben steht ein anderer im Zusammenhange, nämlich der, daß Seele und Geist des Menschen ihren Wohnsitz im Kopfe haben, dem Sitze des Denkvermögens. Die Sage geht, daß, als zu Rattenberg der gelehrte Hofkanzler der Erzherzogin Claudia, Wilhelm von Biener, der vormalige Besitzer des Schlosses Büchsenhausen ob Innsbruck, durch Verrat und Schlechtigkeit seiner Feinde im Jahre 1651, am 17. Juli vormittags um 10 Uhr, mit dem Schwerte vom Leben zum Tode gebracht wurde, zunächst dessen abgeschlagener Kopf am Boden eine furchtbar ernste und schreckliche Miene gemacht habe, daß manche der Zuschauer ganz entsetzt enteilten - sodann daß der Geist des Hingerichteten dem Priester, der am andern Morgen für letzteren das heilige Meßopfer vollzog, erschien und ihm auftrug, vor Gericht zu sagen, er (Biener) sei unschuldig gestorben. Und noch eines habe der Geist zu dem Priester gesagt: "Künde den Männern des Rechtes und der Gerechtigkeit, daß es übergrausam sei, den Kopf eines Enthaupteten, statt ihn sanft hinzustellen, auf die Erde zu werfen oder fallen zu lassen, denn das verursacht den fürchterlichsten Schmerz, weil im Kopf noch eine Zeitlang der Geist oder die Seele mit vollem Bewußtsein lebt und im erhöhten Maße empfindet."

Auf den Grund dieses alten Tiroler Volksglaubens, daß der Kopf des Menschen wesentlichster Teil sei und es genüge, wenn auch nur dieser, und nicht der übrige Körper, in geweihter Erde ruhe, begrub jene Witwe die Köpfe ihres enthaupteten Sohnes und seiner Raub- und Mordgesellen auf der Hohen Salve, begruben in neuerer Zeit die Wildschützen von Bieberwier das Haupt ihres erschossenen Kameraden.

Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 42