Stein des Gehorsams

Eine kleine halbe Meile unterhalb der Stadt Hall liegt am Inn, bei der sogenannten Volderer Brücke, eine nicht große, aber gar schön gezierte Kirche, geweiht zu Ehren des h. Carlo Borromeo. Dieselbige Kirche hat im 17. jahrhundert nach unseres Herrn Kunst ein damals hochberühmter Arzt, Hippolyt Guarinoni, von Abstammung ein Mailänder, doch zu Trient geboren, erbauen lassen. Es war der Doktor Hippolyt nicht nur gepriesen ob seiner Arzneikunst, sondern auch wegen seiner Frömmigkeit und Enthaltsamkeit, wie er denn ein eigenes Buch wider das Laster der Völlerei geschrieben hat. Dieser der damals römischen kaiserlichen Majestät Leibmedicus, von dem die Zeitgenossen vielfältig Gutes zu rühmen wissen, war beim Bau der oberwähnten Kirche, die später zum Kloster der PP. Serviten kam, selbst mittätig, einmal als Baumeister, einmal als gewöhnlicher Maurergesell oder Handlanger, aber immer fröhlichen Eifers voll.

Drei Monate, nachdem der Grundstein der neuen Kirche gelegt worden, ereignete sich beim Bau ein seltsames und wunderbares Ding. Unter den Wertleuten nämlich waren auch zwei wohlhäbige Bauern aus dem Volderer Wald, von so großer Gestalt und auffallender Leibesstärke, daß sie gemeinhin "die Riesen" genannt wurden. Die Riesen also waren emsig mit Steinsprengen für die Grundmauern der neuen Kirche beschäftigt - da glitt ein mächtiges Trumm von dem gesprengten Felsen zwischen ihren Eisenstangen durch und stürzte mit voller Wucht abwärts auf die Bandstraße zu. Der Doktor Guarinoni als Bauführer und alle Arbeiter sahen starr vor Schrecken den Block herunterschießen; ganz unwillkürlich stieß einer von ihnen - es heißt: der Doktor selbst - den Ruf aus: "Stehe still in Gottes Namen!" Kaum hatte er so gerufen, da stand der Steinklotz auf der Kante des abfallenden Schrofens still, gleichsam frei in die Luft hinausragend, und so blieb er, bis fünf Leute, die sich just auf der Straße befanden und von dem stürzenden Stein sicher wären zerquetscht worden - ein Bauer mit Pferd und Ochsen war dabei - glücklich vorüber und gerettet waren. Als dies gelungen war, schrie ein anderer Arbeiter dem auf der Bergschneide so wunderbar gehaltenen Stein die Worte zu: "Bist du in Gottes Namen still gestanden, so fahre in Gottesnamen wieder weiter!" Da überstürzte sich der Stein von dem Schrofen herab, über die Straße hinüber, gerade auf die Grundmauern der angefangenen Kapelle des hl. Ignatius Loyola. Dort wurde er dann eingemauert, als an der Stätte, die er sich selbst erkoren; über eine Zeit aber ließ der Doktor Guarinoni ihn wieder von den Arbeitern (darunter wohl auch die Riesen waren) ausgraben und in der Kirche von St. Carl Borromeo nächst dem Eisengitter zu ewigem Gedächtnis aufstellen. Daneben stand auf einer Tafel die ganze wunderbare Begebenheit zu lesen. Auch der Name, den Hippolyt und seine Werkleute dem Stein gegeben - "Stein des Gehorsams" ist ihm allezeit verblieben.

Quelle: Tiroler Legenden, Helene Raff, Innsbruck 1924, S. 213ff