Der Jocher See

Auf dem Vigiljoch, hoch über Lana bei Meran liegt der schon beinahe ausgetrocknete Locher See. Auf seinem Grunde geistern Pilatus, der Landpfleger und ein Graf Fuchs zu Lebenberg, der durch sein sündhaftes Leben die Strafe des Himmels auf sich gezogen hat. Der war ein steinreicher Herr, saß auf seiner Veste Lebenberg und wußte nicht was beginnen vor Hoffalt und Üppigkeit. Er warf das Geld mit vollen Händen aus, durchschwelgte die Nächte mit Trunk und Spiel; dabei war er von harter, jähzorniger Gemütsart, gönnte keinem Gutes, hatte seine Lust, die Schwächeren oder ihm Untergebenen zu schinden und zu drücken. Mit dem Kirchengehen hatte er es nicht, aber die heiligen Tage pflegte er durch lärmendes Jagen zu feiern und den Abend darnach einen gehörigen Rausch zu trinken, wenn er nicht auf noch Ärgeres verfiel. Dennoch getraute sich niemand eine Einrede, so große Furcht hatten alle vor ihm.

Einmal an Ostern, wie alle Chrisienheit Allelujah sang, saß der Graf im Rittersaal seiner Burg, umgeben von Dirnen und Saufkumpanen, mit denen er die heilige Nacht durchlumpte. Das ging dem alten Burgkaplan zu Herzen; er stieg in den Saal hinauf und lag dem Grafen dringlich an: er solle die Nacht der Urständ unseres Herrn nicht also entweihen. Einige, die da waren, wurden von den mahnenden Worten bewegt; der Graf aber geriet in wütigen Zorn und schrie seinen Knechten zu: sie sollten den frechen Pfaffen fortschaffen und in den Jocher See schmeißen. Zwei wilde Knechte waren alsbald bereit: sie schleppten den frommen Greis von bannen und warfen ihn in den See.

Da freute sich der Graf, des lästigen Mahners los zu sein. Er trieb sein wüstes Leben darnach noch ärger wie zuvor. Eines Tages aber ritt er ganz mutterseelenallein auf die Birsch [Pirsch] oben am Jocher See - und kam nimmer zurück. Es ging die Rede, sein Roß habe gescheut und sich mit ihm in den See gestürzt, wo er jämmerlich ertrunken sei.

Seit der Zeit ist oft ein grausiges Getös und Gebraus im See; es läßt sich auch droben ein furchtbarer, wilder Wolf mit glühenden Augen sehen; das soll der unselige Geist vom Grafen Fuchs sein. Alte Leute wollen ihn gesehen haben, wie er aus dem Wasser stieg und sich sonnte. Wenn aber der See recht murrt und rechte Wellen schlägt, sagen die Bauern aus der Gegend unterm Vigiljoch: jetzt tun der Pilatus und der Graf Fuchs raufen miteinand.

Quelle: Tiroler Legenden, Helene Raff, Innsbruck 1924, S. 148ff