Der gespeiste Herrgott

Es war einmal nahe von Rovereto ein armer Knabe, dem war sein Vater und seine rechte Mutter gestorben. Er lebte bei einer bösen Stiefmutter, die plagte und quälte ihn auf jede Weise und gönnte ihm keinen freundlichen Blick, ob er gleich das frömmste, reinste Gemüt hatte. Er aber ertrug alles, was sie ihm antat, Gott zuliebe geduldig und ohne Murren. Täglich in der Frühe ging er in die Kirche des nahen Klosters und diente bei der heiligen Messe; das tat er mit solcher Andacht und Sittsamkeit, daß ihn die Klosterherrn bald lieb gewannen. Sie erfuhren auch, wie schlecht es der gute Junge bei seiner harten Stiefmutter hatte und bemitleideten ihn von Herzen.

Eines Tages rief ihn der Pater Guardian zu sich und fragte ihn, ob es wahr sei, daß ihn die Stiefmutter so schlimm behandelte? Da wurde der Knabe dunkelrot, sah zu Boden und schwieg. Das gefiel dem Pater erst recht, daß er die Mutter nicht verklagen wollte und er machte ihm den Vorschlag, ins Kloster zu kommen und für immer da zu bleiben.

Dem Buben stieg die Freude zu Herzen und ins Gesicht; aber er besann sich doch und sagte: "Ich will erst die Mutter fragen."

Die böse Stiefmutter war nur froh, den Knaben aus dem Haus zu bringen mit guter Manier. Sie schnürte ihm seine paar Siebensachen in ein Bündel und wandte sich brummend ab, als der Kleine ihr beim Abschied an der Haustüre noch danken und die Hände küssen wollte. Desto freundlicher wurde er im Kloster aufgenommen. Da verrichtete er im Haus und in der Kirche allerhand kleine Dienste, voll Eifer und pünktlichen Gehorsams, und ward bald der Liebling aller, die im Kloster waren.

Eines Tages hieß ihn der Pater Guardian einige Wolldecken in eine Dachkammer tragen. Der Knabe tat es, und als er die Decken an ihren Ort gelegt hatte, fiel sein Blick auf ein altes Kruzifix, das in einem Winkel lag. Es war ganz mit Staub und Spinnweben bedeckt; sogleich machte sich der Knabe daran, es zu reinigen. "Ei, wie staubig du bist!" sagte er treuherzig - "sie haben dich wohl lange hier liegen lassen und dich vergessen. Und wie dürr und mager bist du, warte, da will ich gleich helfen."

Hugo Grimm,  Der gespeiste Herrgott

Sobald er das Bild gesäubert und besser hingelegt hatte, sprang er die Treppen hinab in die Küche. Es war Tischzeit, und der Bruder Koch hatte dem Knaben schon seinen Topf mit Essen zurechtgestellt. Der trug ihn unbemerkt in die Dachkammer hinauf und setzte sich damit neben das Kruzifix. "Einen Löffel dir und einen Löffel mir!" sagte der Kleine, indem er den Löffel mit Speise an den Mund des Gekreuzigten brachte. Und o Wunder! das hölzerne Bildnis tat die Lippen auf und aß. "Ei!" sagte der Knabe voll unschuldiger Freude, nachdem sie beide so abwechselnd fertig gegessen hatten - "dein Aussehen ist wirklich schon besser und deine Arme sind auch schon stärker geworden. Morgen wollen wir wieder zusammen essen."

So tat der gute Junge viele Tage lang. Aber während der Herrgott sichtlich zunahm, magerte der Knabe zusehends ab: seine Wangen wurden blaß und fielen ein, und sein Gewändlein schlotterte ihm um den Leib. Das gewahrte der Pater Guardian und fragte den Koch: "Ei, Bruder, gebt Ihr denn dem Buben zu wenig zu essen, daß er so mager wird?" - Der Bruder Koch erzählte nun, wie der Knabe schon seit vielen Tagen sein Essen eilig in eine Dachkammer trüge; doch brächte er den Topf stets leer zurück. Als der Pater das hörte, ward er neugierig, was der Knabe wohl in der Kammer täte. Und am nächsten Tage, da dieser wieder mit seinem Topf hinaufstieg, schlich der Guardian ihm nach. Durch die halboffene Türe der Kammer sah er, wie der Knabe, ohne ihn zu bemerken, mit den Worten: "Einen Löffel dir, einen mir!" dem Herrgott zu essen gab und der auch wirklich aß. Von heiligem Schauer gepackt, eilte der Guardian hinweg.

Nachmittags rief er den Knaben zu sich, der auf seine Frage alles unbefangen erzählte; da sprach er zu ihm: "Wenn du morgen wieder mit dem Herrgott gegessen hast, so bitte ihn und sprich also: Lieber Herrgott, ich habe dich schon so lange gespeist, nun lad auch einmal mich und meinen lieben Pater Guardian zu deinem Tische ein!" Das versprach, der Knabe.

Am folgenden Tage brachte er sein Anliegen vor. Da antwortete der Herrgott: "Deine Bitte soll erhört werden. Sage dem Pater Guardian, er soll morgen gegen Mittag die Messe lesen und auch dir die heilige Kommunion reichen; denn ihr seid beide auf morgen Mittag zu meinem Tische geladen."

Der Pater Guardian befolgte das Geheiß. Nachdem er gegen Mittag die Messe gelesen und auch dem Knaben, der ihm ministrierte, das heilige Abendmahl gereicht hatte, fiel er, als er gerade den Altar verlassen wollte, tot zu Boden und mit ihm der Knabe, der das Meßbuch noch im Arme hielt.

Sie waren beide hinübergegangen in die ewige Seligkeit, zum himmlischen Freudenmahle unseres Herrn.

Quelle: Tiroler Legenden, Helene Raff, Innsbruck 1924, S. 37ff