Der selige Hermann

Hermannus, aus dem Geschlecht der Ritter von Schönstain, war in den Orden des hl. Benedikt getreten und lebte als Mönch im Kloster Pfäfers in Graubünden, als die Ordensgenossen des Klosters Marienberg im Vinschgau von dorther einen Abt und Oberhirten begehrten. Auf Geheiß seines Abtes folgte Hermann, den keineswegs nach Ehren verlangte, der auf ihn gefallenen Wahl und begab sich mit noch zwei Gefährten nach Marienberg. Dort nahm er sich der geistlichen Wohlfahrt seiner Brüder und der Klostelleute mit wahrem Herzenseifer an, stellte auch die klösterliche Zucht, die etwas gelockert war, wieder her, also daß sein Kloster wuchs und überall zu hohem Ansehen kam. Desgleichen trachtete er dessen weltliche Güter, die zum Teil aus Schwäche und Liederlichkeit verzettelt worden waren, wieder zusammenzubringen. Der eigene Schirmvogt des Klosters, Mich Graf von Matsch, hatte etliche der Klostergüter zu Unrecht an sich gebracht; als Abt Hermann zunächst mit milden und maßvollen Worten ihm sein unbilliges Verfahren vorhielt und die Rückgabe der Güter begehrte, weigerte der Graf, vom Geiz betört, sich hartnäckig, sie herauszugeben. Nach vergeblichen wiederholten Mahnungen entschloß sich Abt Hermann, den Handel vor den Landesherrn zu bringen. Aus Rache sann der habgierige Graf sich seines Gegners zu entledigen. Er erkundete, daß Abt Hermann, der es liebte, in einsamer Gegend der Betrachtung zu Pflegen, im waldigen Tal Schlienig verweilte. Dort überfiel ihn Ulrich mit seinen Reisigen und dräute ihm den Tod, worauf Hermann ruhig sein Haupt dem Todesstreich darbot. Das schlug ihm Graf Ulrich mit einem Schwertstreich vom Leibe weg. Den Leichnam, von Blut überronnen, fanden über eine Weile die ihn angstvoll suchenden Ordensgenossen und brachten ihn nach Marienberg, wo er mit vielen Tränen bestattet wurde. -

Kurz vor seinem Tode soll der fromme Abt einer in große Trübsal versenkten Frau in Gestalt eines hellschimmernden Sterns erschienen sein und sie wunderbar getröstet haben. Nachdem er aber den Märtyrertod gestorben war, sah ein gottesfürchtiger Soldat, der auf Schloß Fürstenburg die Wache hielt, den seligen Hermann vor sich, mit hoheitsvollem glänzenden Antlitz und in schneeweißen Kleidern. Der erschrockene Wächter faßte sich rasch wieder und sprach die Erscheinung an: "Ich bitte dich um des lebendigen Gotteswillen, daß du mir sagst, wer du seiest" - worauf ihm die Antwort ward: "Ich bin Hermannus der Abt." "Und warum" - fragte der Soldat - "nimmst du deinen Weg hier vorbei?" Da sprach der selige Märtyrer: "So wie du zur Nachtzeit sorgsam dies Schloß bewachst, will ich allzeit über jenes Gotteshaus" - er deutete mit dem Finger nach Marienberg - "die Schutzwacht halten und sein treuer Beschirmer sein." Nachdem er so gesprochen, ist er verschwunden.

Quelle: Tiroler Legenden, Helene Raff, Innsbruck 1924, S. 124ff