Der Drachensee

Nachdem auf die Fürbitte des heil. Magnus den Bergbewohnern um Füssen die Metallschätze ihres Bodens offenbar geworden, wurden sie mit der Zeit steinreich, aber der Reichtum versteinte [versteinerte] auch ihre Herzen, machte sie übermütig, geizig und hart. Einmal, an einem stürmischen Winterabend, in Rauhfrost und Kälte, kam ein meeraltes graues Männchen zu einem der stattlichsten Häuser in einem Außerferner Dorf und erbat um Gottes" willen ein Obdach. Aber sein Bitten war vergeblich: die Knechte stießen ihn hinaus und warfen die Türe hinter ihm zu. Da verfluchte der Alte die Unbarmherzigen und irrte weiter, bis er in Jacht und Kälte umkam. Andere sagen, daß es kein Mensch gewesen und daher nicht gestorben sei, sondern der heilige Herr Sankt Magnus selbst, der den Mißbrauch seiner Guttat strafen gewollt.

Sein Fluch aber ging alsbald in Erfüllung. Die Erde begann zu beben - da wurden die Goldgruben verschüttet, die Häuser stürzten ein und versanken. Wo das reiche Dorf ehemals gestanden hatte, bildete sich ein See, der ward gegeheißen der Drachens. Denn ein Drache hütet den einzigen Zugang zu dem versunkenen Dorf, das nur einmal im Jahr noch aus dem Grund emportaucht: in der heiligen Christnacht um die Mitternachtszeit.

Ein Bursch, der sich beim Holzziehen verspätet und dabei im Nebel den Weg gefehlt hatte, geriet in der heiligen Nacht auf den Pfad zum Drachensee. Da hörte er Glockenläuten und ging dem Schall nach, verwunderte sich aber, wo hier eine Kirche sein sollte; auch klang das käuten gedämpft wie aus der Tiefe. Wie er zum See kam, ragten aus dem Wasser lauter altertümliche aber stattliche Häuser hervor, inmitten die Kirche, die erleuchtet war. Die Türe stand offen, und die Leute gingen zur Kirche, alle blaß und mit gesenkten Köpfen; auch hörte er keinen Hall von einem Tritt, überhaupt keinen Ton. Ein paar kindjunge Dirnlein trippelten hinterdrein; die eine wandte ein wenig das Gesicht und sah den Burschen ganz unverhofft da stehen. Da winkte sie ihm heimlich, er sollte sich fortmachen; wie er nicht gleich gehorchte, wies sie auf den Rand des Seebeckens, wo das Wasser in beständiger Bewegung war vom Atem des Drachen, der das Wasser einschlürfte und ausgurgelte. Den Burschen fiel mit eins ein kalter Schauder an; er machte Kehrt und eilte fort, so schnell er konnte, hielt dabei fortwährend die Hand in seinem Hosensack, in dem er ein Messer mit Kreuzgriff und einen hochgeweihten Rosenkranz hatte. Als er ganz weit entfernt war, hörte er ein Uhr schlagen - und getraute sich umzublicken und zum See hinüber zu sehen. Da lag der See schwarz und tot wie sonst. Später erzählte der Bursche daheim seinem Firmpaten, einem erfahrenen Mann, was ihm begegnet war. Der belehrte ihn: er könnte von Glück sagen, daß er sich so schleunig durchgemacht und etwas Geweihtes dabei gehabt hätte, denn wenn ihn die anderen gesehen hätten, so wäre es um ihn geschehen gewesen, und der Drache hätte ihn geschlündet.

Quelle: Tiroler Legenden, Helene Raff, Innsbruck 1924, S. 132ff