SAGE VON DER FRAUENMAUER
Im Gsollgraben bei Eisenerz steht ein Gehöfte, welches einst den 
        Jesuiten, früher noch aber einem reichen Hammergewerken im Paltentale 
        gehörte. Nach dem Tode des Gewerken zog sich dessen Witwe hierher 
        zurück und richtete sich im Gsollhofe ein. Sie war eine tüchtige 
        Bergsteigerin und geübte Jägerin; niemals fehlte ihre Büchse 
        eine Gemse oder einen Hirsch.
        
        Frau Kunigunde, so hieß die Witwe, war in der ganzen Gegend sehr 
        beliebt, denn sie tat den Leuten nur Gutes und nahm sich besonders der 
        Armen und Alten gerne an. Sie hatte nur einen Feind, den Wandhiesel, einen 
        alten, verrufenen Wildschützen, welcher der Witwe nicht gut gesinnt 
        war und auf ihr Verderben sann. Frau Kunigunde wußte dies und fand 
        es deshalb nicht geraten, so ohne alle Vorsicht in der abgelegenen Gegend 
        zu wohnen. Sie setzte ihre Waffen in sicheren Stand und gab den Knechten 
        strenge Verhaltungsbefehle.
        
        Eine Zeitlang blieb alles ruhig und stille im Gsollgraben. Aber eines 
        Tages, als Frau Kunigunde eben auf ihrer Wiese weiter drinnen im Tale 
        war, kam eine Schar von Frauen und Kindern daher, und hintennach Männer 
        und Jünglinge, beladen mit allerlei Habseligkeiten. "Die Türken 
        kommen! Die Türken verheeren alles mit Feuer und Schwert, sie dringen 
        schon von Losenstein und Altenmarkt herein; wehe uns Armen!" So riefen 
        die Leute, welche sich aus Eisenerz in diese stille abgelegene Gegend 
        geflüchtet hatten. Frau Kunigunde erschrak zwar auch heftig, als 
        sie diese Nachrichten vernahm, aber ihre Besonnenheit verließ sie 
        auch jetzt nicht. Mit kalter Ruhe betrachtete sie die Leute und fragte 
        dann: "Wo sind die übrigen Eisenerzer?"
        
        "Was warenfähig ist, wird sich zur Wehr stellen", lautete die Antwort; 
        "einzelne Furchtsame flüchteten über die Berge, wir aber suchen 
        in der Gsoll unsere Zuflucht."
        
        "Da habt ihr wohlgetan!" erwiderte die Witfrau, "obschon ich glaube, daß 
        euch der Schrecken unnötigerweise übermannt hat. Vor wenigen 
        Tagen erhielt ich einen Brief von einem Verwandten in Steyr, der mir von 
        solchen bevorstehenden Gefahren gar nichts meldete. Doch sei es, wie es 
        will! Ich werde euch ein Versteck anweisen, wo ihr ganz sicher seid." 
        Und nun zeigte sie mit der Hand auf die steile Felswand des Karlkogels 
        und fuhr fort: "Seht ihr dort oben im Felsen die drei Löcher? Im 
        Innern dieses Berges befinden sich geräumige Höhlen, die mir 
        alle sehr gut bekannt sind. Ein sehr schmaler Pfad führt da hinauf; 
        aber ich und mein Meier kennen noch einen anderen Zugang, den sonst niemand 
        weiß. Wenn nun wirklich die Feinde kommen, und wenn sie auch noch 
        so zahlreich sind, daß sie das ganze Tal ausfüllen, so werden 
        sie euch nichts anhaben können. Ich will euch in den geheimnisvollen 
        Irrgängen im Innern des Berges zurechtweisen, werde euch mit Lebensmitteln 
        versorgen und auch den besseren Teil meiner Habe eurer Obhut anvertrauen!"
        
        In aller Schnelligkeit wurden die notwendigen Anstalten getroffen, und 
        schon wenige Stunden danach kletterten die mit Lebensmitteln, Holz und 
        Küchengeschirr, ja selbst mit Pulver und Büchsen versehenen 
        Flüchtlinge unter sicherer Führung der mutigen Witfrau über 
        steiles Gerölle gegen die hohe, unersteiglich scheinende Wand; selbst 
        Ziegen wurden mitgetrieben, auf daß die Leute, insbesondere die 
        Kinder, der frischen Milch nicht zu entbehren brauchten. Obschon sich 
        manchmal keine Spur des Pfades zeigte, führte Frau Kunigunde ihre 
        Schützlinge doch so sicher, daß sie immer näher dem Ziele 
        kamen. Nach mühsamer Überklimmung eines Felsenkammes stand endlich 
        die ganze Schar vor dem Eingange einer weiten Höhle. Frau Kunigunde 
        und einige ihrer Knechte kletterten voran, und als sie endlich oben waren, 
        zogen sie alle die Übrigen hinauf. Nun machten sich's die Leute in 
        der Höhle und in einigen ihrer Verzweigungen bequem, nachdem noch 
        vorher die Witfrau sie mit allen bedenklichen Stellen und Abstürzen 
        bekannt gemacht hatte; die Vorräte wurden an trockene Stellen gebracht, 
        die Lagerstätten aufgeschlagen und auch die Losung verabredet, unter 
        welcher die am Eingange der Höhle bestimmten Wachen die Witwe oder 
        deren Abgesandte zu jeder Zeit des Tages oder der Nacht erkennen sollten. 
        Auch eine Fallbrücke wurde aus festen Baumstämmen gezimmert, 
        der schmale Felsenkamm durchgeschlagen und so die Höhle förmlich 
        nach außen abgesperrt. Nachdem dies alles geschehen war, sagte Frau 
        Kunigunde: "Sollte ich verfolgt werden, so werde ich euch die Worte: 'Schön 
        ist die Nacht nicht, aber heilsam' zurufen; dann legt schnell die Brücke 
        auf den Fels, damit ich mich zu retten vermag." Die Leute versprachen, 
        alle ihre Befehle zu befolgen und dankten ihr unzählige Male für 
        die Guttaten, die sie ihnen erweise.
        
        Darauf begab sich die Witfrau zurück in den Gsollhof Doch kam sie 
        abends wieder zur Höhle und übergab ihre beste Habe den Flüchtigen 
        zur Obhut, während der Meier und einige Knechte auf ihren Befehl 
        unter dem Felsen ein Pulverfaß eingruben. Auf dem Heimwege ließ 
        die Witfrau noch durch einen Knecht die nahe Holzhütte ihres Feindes, 
        des Wandhiesels, durchspähen, von dem sie wußte, daß 
        er vor mehreren Tagen das Tal verlassen hatte; derselbe war noch nicht 
        zurückgekehrt und auch sonst hatte der Knecht in der Behausung nichts 
        Verdächtiges gefunden.
        
        Im Gsollhofe selbst ließ nun Frau Kunigunde alles Nötige zur 
        Verteidigung herrichten. Die Knechte wurden bewaffnet, Gewehre und Schießvorräte 
        in Bereitschaft gesetzt, und nun glaubte die Herrin des Hofes, ruhig die 
        kommenden Ereignisse abwarten zu können.
        
        Es verging der nächste Tag und auch der darauffolgende, doch hörte 
        und sah man nichts von den Türken. Als aber die Nacht eingetreten 
        war, bewegten sich durch das Nadelgehölz vom Pfaffenstein herab gegen 
        den Gsollhof dunkle Schatten; immer näher drangen verworrene Stimmen; 
        nun schlugen im Hofe die Hunde an; die Knechte machten sich schußfertig 
        an die Fenster und an die Mauern des Gehöftes. Frau Kunigunde selbst, 
        in Schützentracht gekleidet, stand mit ihrem Stutzen lauernd in einer 
        Kammer. Jetzt kam der Lärm immer näher, Fußtritte wurden 
        hörbar und in das Gewirr vieler rauher Männerstimmen mengte 
        sich das Geklirre der Waffen.
        
        "Aufgemacht!" donnerte jetzt eine Stimme, "aufgemacht, oder wir setzen 
        euch den roten Hahn auf das Dach!"
        
        Die mutige Witwe, welche an der Stimme den Wandhiesel erkannte und nun 
        auch wußte, daß dieser ihr Widersacher die Feinde auf Umwegen 
        hierher geführt hatte, um sich mit Hilfe türkischer Räuber 
        ihrer Schätze zu bemächtigen, rief demselben, der eben mit Steinen 
        nach dem eisenbeschlagenen Hoftor warf, mit entschiedener Stimme zu: "Versucht 
        es nur und ihr sollt einen Empfang finden, der euch gewiß nicht 
        behagen wird!"
        
        Darauf krachten einige Schüsse und klirrten die Scheiben der Fenster. 
        Aber nun entluden sich ein halb Dutzend Rohre und ebensoviele Angreifer 
        stürzten zu Boden. Man vernahm im Hofe deutlich das Wimmern und Stöhnen 
        der Verwundeten und Sterbenden. Da rief Frau Kunigunde abermals: Weicht 
        zurück, ihr nächtlichen Diebe, oder ich lasse mit gehacktem 
        Eisen auf euch feuern!"

Die Sage von der Frauenmauer
        © Künstlerin 
        Maria Rehm
        © Viktoria Egg-Rehm, Anita Mair-Rehm, für SAGEN.at 
        freundlicherweise exklusiv zur Verfügung gestellt
        "Weib, das soll dir teuer zu stehen kommen!" schnarrte die Stimme Wandhiesels, 
        der nun sein Rohr gegen die kühne Frau losbrannte. Aber diese sagte 
        verächtlich: "Schlechter Schütze!" und drückte nun ebenfalls 
        los; rechts und links sanken mehrere Angreifer, vom gehackten Eisen verstümmelt, 
        zu Boden, und Wandhiesel selbst fühlte sich an der linken Backe schwer 
        verwundet.
        
        Jetzt erscholl die Stimme des türkischen Anführers, welcher 
        befahl, Pechkränze auf das Bretterdach des Hauses zu werfen. In wenigen 
        Minuten loderten von dem Gebäude die roten Flammen empor. Immer wütender 
        drangen die Räuber nun gegen den Hof vor; schon waren die meisten 
        Knechte tot, die übrigen aber mehr oder weniger schwer verwundet.
        
        Nur Frau Kunigunde war noch unversehrt und beantwortete jede Aufforderung 
        zur Ergebung mit einem wohlgezielten Schusse aus ihrem nie fehlenden Stutzen; 
        jedesmal nach einem solchen wälzten sich auch einige der Feinde am 
        Boden.
        
        Aber immer näher drang die Glut, schon knisterte die Decke, schon 
        rauchten die Dielen und der Trieb der Selbsterhaltung zwang die tapfere 
        Witfrau, nunmehr das brennende Haus zu verlassen und sich zu flüchten. 
        Sie ergriff einen Hirschfänger und schlüpfte dann durch ein 
        Hinterfenster, welches sie unbeobachtet glaubte, vorsichtig hinunter. 
        Aber kaum hatte sie den Boden erreicht, als auch schon kräftige Fäuste 
        sie ergriffen, zu Boden warfen, trotz ihres hartnäckigen Widerstandes 
        fesselten und dann vor den Anführer schleppten.
        
        Dieser verlangte von der Gefangenen vor allem deren Schätze, von 
        denen ihm Wandhiesel erzählt hatte. Frau Kunigunde entgegnete, sie 
        habe dieselben in der Höhle weiter drinnen verborgen. Dies leuchtete 
        auch dem Wandhiesel ein und er drang in die Witfrau, die ganze Schar zur 
        Höhle zu führen, wo sich dann jeder selbst auswählen sollte, 
        was ihm gefiele.
        
        Frau Kunigunde erklärte sich dazu bereit. "In der Höhle befinden 
        sich einige Flüchtlinge aus Eisenerz", sagte sie, "und ohne mein 
        Losungswort wird man euch nicht in die Höhle lassen; doch wenn ihr 
        versprecht, mir das Leben zu schenken, werde ich euch alle meine Schätze 
        ausliefern."
        
        Der Anführer wie auch Wandhiesel versprachen hohnlächelnd, ihr 
        kein Leid anzutun, und nun nahm der erstere den Strick, mit welchem die 
        Gefangene gebunden war, in die Hand und der Zug setzte sich in Bewegung.
        
        Es mochte gegen Mitternacht sein, als sie am Fuße der Wand ankamen. 
        Die Dunkelheit der Nacht verschleierte den gefährlichen Pfad. Als 
        sie hinaufkamen in die Nähe des durchbrochenen Felsenkammes, riefen 
        die Wächter am Eingange der Höhle: "Wer da!"
        
        "Sorgt euch nicht!" flüsterte Frau Kunigunde den Räubern zu, 
        "und bleibt jetzt ruhig stehen!" Und zu Wandhiesel sagte sie, er möge 
        sich hierher neben den Anführer stellen und dieser wolle den Strick 
        etwas nachlassen, damit sie die Tritte in dem Felsen leichter fände. 
        Nachdem dies geschehen, scharrte die mutige Frau mit der Hand das Gerölle 
        des Bodens weg und rief dann nach aufwärts: "Gute Freunde! Schön 
        ist die Nacht zwar nicht, aber heilsam!" Leise schoben die Wächter 
        die Zugbrücke auf den Fels.
        
        Jetzt war der Moment der Rettung gekommen. "Verhaltet euch ruhig, damit 
        ihr nicht in die Tiefe stürzt!" rief die Witfrau, überschritt 
        die Fallbrücke, die dann auch sogleich wieder in die Höhe ging, 
        und verlangte von den Wächtern eine Fackel. Es stutzten zwar die 
        Räuber darüber, blieben aber ruhig stehen, denn sie ahnten, 
        daß hier jeder Fehltritt verderbenbringend sei.
        
        Mit einem Male rief Frau Kunigunde den Leuten in der Höhle zu: "Zurück 
        da vom Rande der Höhle!" und warf dann mit sicherer Hand eine brennende 
        Fackel an jene Stelle, an der sie früher im Gerölle gescharrt 
        hatte.
        
        Einen Augenblick konnte man die verblüfften Gestalten der türkischen 
        Räuber und Genossen Wandhiesels erkennen, dann flammte es hell auf; 
        ein erschütternder Schlag erfolgte, den donnernd die Höhlen 
        des Berges, krachend die benachbarten Felsen zurückgaben. Rauch und 
        Steintrümmer drangen in die Höhle, aus der Tiefe herauf aber 
        erscholl schauerliches Ächzen und Wimmern.
        
        "Dem Himmel sei Dank! Wir sind gerettet!" rief die mutige Witfrau und 
        kniete nieder zum frommen Gebete; dann aber legte sie sich, erschöpft 
        von den furchtbaren Anstrengungen, auf ein in Bereitschaft gehaltenes 
        Lager und schlief ein. Am nächsten Morgen sah man den Felsenkamm, 
        welcher den Zugang bildete, in die Luft gesprengt, und ringsum den steilen 
        Felsboden mit den Leichnamen und einzelnen Gliedmaßen der durch 
        die Explosion getöteten Räuber bedeckt. Nach einigen Tagen erst 
        wagte sich Frau Kunigunde wieder in ihr Haus, das sie fast ganz zerstört 
        fand. Hier hörte sie auch, wie die übrigen in Eisenerz eingedrungenen 
        Türken von den von ihren Bergoffizieren angeführten Knappen 
        überfallen, besiegt und niedergemetzelt worden waren. Nur wenigen 
        der Feinde gelang es, zu entfliehen; sie flüchteten sich in das Tal 
        der Ramsau, wurden aber auf der sogenannten Beeres von den Bergknappen 
        eingeholt und niedergesäbelt. Die Stelle, wo dies geschehen, heißt 
        noch heutzutage der Türkenboden.
        
        Als Frau Kunigunde diese frohe Nachricht erhalten, begab sie sich zurück 
        in die Höhle und führte ihre befreiten Schützlinge quer 
        durch den Berg hindurch, bis sie zuletzt das liebe Sonnenlicht wieder 
        schauten und durch eine ganz mit Gestrüpp überwachsene und verdeckte 
        Öffnung ins Freie kamen. Und seitdem heißt diese großartige 
        Höhle des Karlkogels die "Frauenmauerhöhle", welche nun alljährlich 
        von zahlreichen Naturfreunden besucht und durchgangen wird.
Sagen aus der grünen Mark, Hans von der Sann, Graz 1911