DIE ERLÖSTE JUNGFRAU
Auf der sogenannten Kühbrandtner-Halt bei Kalwang, nahe am Rande
eines kleinen Wäldchens, weideten einstens zwei Kinder, ein zehnjähriger
Knabe und ein um zwei Jahre jüngeres Mädchen, die Herde ihrer
Eltern. Sie tummelten sich fröhlich auf der bunten Wiese umher, pflückten
Blumen und bewarfen sich dann gegenseitig mit denselben. Ohne die im Grase
weidenden Schafe außer Augen zu lassen, trieben sie allerlei Kurzweil
und suchten sich so viel als möglich die freie Zeit zu vertreiben,
wie es Kinder überhaupt gerne tun. Plötzlich sahen sie vor sich
ein kleines, buckliges, schwarz gekleidetes Männchen stehen; es schien
den erschrockenen Kindern, als sei selbes aus dem Erdboden emporgekommen.
Das Männchen, welches die Furcht der Kleinen erkannte, sprach ihnen
liebreich zu, sie möchten sich nicht fürchten, es wolle ihnen,
weil sie brav seien, etwas sagen, das, wenn sie es befolgten, ihnen und
ihren Eltern viel Gutes bringen werde.
Die beiden Geschwister, als sie das kleine, seltsame Männchen so
freundlich reden hörten, faßten sich ein Herz, traten näher
heran und baten nun dasselbe, es möge ihnen mitteilen, wie sie ihren
Eltern eine große Freude bereiten könnten.
Die erlöste Jungfrau
© Künstlerin
Maria Rehm
© Viktoria Egg-Rehm, Anita
Mair-Rehm, für SAGEN.at
freundlicherweise exklusiv zur Verfügung gestellt
Das Männchen sprach nun: "Ihr werdet eine große weiße
Schlange mit einer goldenen Krone auf dem Kopfe und einem goldenen Schlüssel
im Munde sehen. Wenn ihr diese bemerket, so habet keine Furcht, sondern
gehet auf selbe zu und versucht es, ihr den goldenen Schlüssel zu
entwinden. Das Weitere werdet ihr dann schon selbst erfahren." Die Kinder
versprachen, ihm zu folgen. Das Männchen nickte den beiden freundlich
zu und verschwand dann ebenso plötzlich, als es gekommen.
Mit einem Male hörten die Kinder im nahen Gebüsche etwas rascheln.
Sie glaubten, es sei ein Reh, das da am Rande des Wäldchens grase,
oder sonst ein Tierchen. Als sie sich nun umwandten, erblickten sie eine
große weiße Schlange mit einer Krone auf dem Kopfe; ihre Haut
war milchweiß und glänzend und im Rachen hatte sie einen großen
goldenen Schlüssel stecken. "Die Schlange, die Schlange, sie will
uns beißen!" rief das Mädchen und lief nun in größter
Angst davon. Der Knabe, über sein Schwesterchen erschrocken, vergaß
ganz auf die Worte des kleinen, schwarzen, buckligen Männchens, welches
ihnen gesagt hatte, sie sollten der Schlange den goldenen Schlüssel
aus ihrem Rachen entwinden, und eilte der Fliehenden nach. Zu Hause angelangt,
erzählten die Kinder den Eltern, was ihnen begegnet. Diese gingen
auf die Halt, um nach der sonderbaren Schlange zu sehen, fanden sie aber
nicht mehr; nur in der Ferne sahen sie ein goldenes Funkeln und Flimmern,
das sich aber im Dunkel des Waldes verlor.
Geraume Zeit darauf, die Kühbrandtner-Halt war inzwischen in fremde
Hände übergegangen, weidete ein siebzehnjähriger Jüngling
zahlreiche Rinder auf derselben Stelle. Er war von kräftigem, ebenmäßigem
Wuchse, hatte ein schönes Gesicht und ein kindlichfrohes, unschuldiges
Gemüt. Die Beaufsichtigung der ihm von seinem Herrn anvertrauten
Herde nahm seine Gedanken und Aufmerksamkeit vollständig in Anspruch,
und er staunte nicht wenig, als er plötzlich ein kleines, buckliges,
schwarzes Männchen vor sich stehen sah. Es war dasselbe, welches
den beiden Kindern erschienen. Der Jüngling fragte das Männlein
um sein Begehren, und dieses sagte freundlich, es werde eine schöne
weiße Schlange mit einer goldenen Krone auf dem Kopfe und einem
goldenen Schlüssel im Rachen zu ihm kommen. Den Schlüssel solle
er der Schlange entreißen und sie werde erlöst sein und sich
ihm dankbar erweisen. Der Jüngling versprach, dem Wunsche des Männchens
zu entsprechen, worauf dann plötzlich dieses verschwand, ohne daß
der Erstaunte wußte, wohin es gekommen.
Es dauerte nicht lange, so sah er die vom Männlein beschriebene Schlange
auf sich zukommen. Er schritt derselben beherzt entgegen und versuchte,
ihr den goldenen Schlüssel zu entwinden. Wohl wehrte sie sich, aber
der kräftige Jüngling erfaßte den Schlüssel mit starkem
Griffe und riß ihn aus dem Rachen der weißen Schlange. Plötzlich
stand eine wunderschöne Jungfrau vor ihm; ihr edles Antlitz war von
goldenen Locken umrahmt und ein herrliches schneeweißes Gewand umgab
ihren reizenden Körper. Beschämt schlug der Jüngling seine
Augen nieder; er wagte es nicht, in ihr holdes Antlitz zu blicken. Sie
aber sprach: "Habe Dank, schöner Jüngling, daß du mich
erlöst hast! Möchte gerne bei dir bleiben, aber ich muß
zu meinen Geschwistern und kann dich daher nur mit irdischen Gütern
lohnen." Sie winkte ihm hierauf, ihr zu folgen, und beide schritten nun
über die Talseite hin einer steilen Felsenwand zu. Bei dieser nahm
die schöne Jungfrau den goldenen Schlüssel, welchen der Jüngling
der Schlange entrissen und dadurch ihre Entzauberung hervorgerufen hatte,
und sperrte eine verborgene Felsentür auf.
Beide traten nun in das Innere einer großen Felsenhalle ein. In
dieser lagen zahlreiche Kostbarkeiten in ungeheuren Mengen aufgehäuft.
Das schöne, feenhafte Mädchen füllte ihrem Erlöser
die Taschen voll mit Goldstücken und anderen kostbaren Dingen, dankte
ihm nochmals für seine Befreiung, worauf dann beide die Felsenhöhle
verließen. Als sie draußen waren, fiel die Tür mit starkem
Getöse zu; der Jüngling wandte sich um und da war die wunderschöne
Jungfrau verschwunden, auch von der Tür im Felsen war keine Spur
mehr zu sehen. Er glaubte geträumt zu haben; als er aber seine Taschen
befühlte, fand er wirklich die Goldstücke und andere kostbare
Gegenstände. Nun hatte er es nicht mehr nötig zu dienen; er
kaufte sich Haus und Hof und wurde selbst ein reicher Mann.
Sagen aus der grünen Mark, Hans von der Sann, Graz 1911