5.7 Das vergessene Kind im Grimming

Der mächtige Grimming steigt unvermittelt aus dem Talboden um 1700 m empor, weshalb er in früheren Jahrhunderten für höher gehalten wurde als der über der Ramsau gelegene Dachstein. Vom Ennstal aus ist hoch oben in einer steil abfallenden Felswand eine rundbogenartig überwölbte, torartige Vertiefung sichtbar, allgemein einfach „das Grimmingtor“ genannt. Seine genaue Bezeichnung ist „das steinerne Tor“, im Unterschied zum weniger bekannten „Eisernen Tor“, das von der Mitterndorfer Gegend aus zu sehen ist.

Das Ennstaler Grimmingtor öffnet sich nach dem Volksglauben alljährlich für kurze Zeit, wenn in Irdning die Glocken am Peterstage zusammenläuten.

Eine arme Witwe mit einem herzigen Töchterchen lebte einst im Ennstal am Fuße des Grimmings. Der Mann war im Holzschlag verunglückt und so herrschte bald Not und Elend in der kleinen Hütte. In ihrer Verzweiflung beschloß die Frau, die von der Schatzhöhle im Grimming gehört hatte, diese aufzusuchen.

Am Peter-und-Pauls-Tage stieg sie in der ersten Morgendämmerung mit ihrem Kind auf dem Arm zum Grimmingtor hinauf und wartete mit bangem Herzen auf das Geläute der Irdninger Pfarrkirche. Mit dem ersten Glockenschlag öffnete sich krachend das Felsentor und geblendet mußte die Frau ein paar Augenblicke die Augen schließen, denn im Höhleninnern blitzte und glitzerte funkelndes Gold. Dann sprang sie schnell in die Höhle, setzte ihr Kind auf einen Stein, griff mit zitternden Händen nach den goldenen Zapfen und riß etliche herab. Um die Hände frei zu haben, füllte sie ihre Schürze und eilte hinaus, ihren kostbaren Schatz draußen zu bergen. Schon war sie bereit, nochmals in die Höhle zu gehen, doch in diesem Augenblick schloss sich das Steintor.

Mit Entsetzen merkte die Mutter, daß sie ihr Kind in der Höhle vergessen hatte. Mit den Fäusten hämmerte sie auf den kalten Stein, schrie, jammerte und flehte zum Himmel um Hilfe – aber das Steintor blieb unbarmherzig geschlossen. Stundenlang versuchte sie mit ihren schwachen Kräften das Tor zu öffnen, verwünschte das Gold tausendmal und warf schließlich die Zapfen klirrend an die Felswand. „Mein Kind will ich haben, behalte das Gold, aber gib mir mein Kind zurück!“ schrie sie verzweifelt. – Vergebens! – Mit blutenden Händen, vor Aufregung zitternd, an Körper und Seele gebrochen, schlich sie endlich hinab ins Tal. Freudlos verlebte sie Wochen und Monate einsam in ihrer Hütte, fern allem menschlichen Getriebe.

Viele Menschen fragte sie um Rat, bis ihr eines Tages ein alter weiser Einsiedler sagte, sie solle im nächsten Jahr wieder am Peterstag zum Grimmingtor gehen. Sie befolgte den Rat des weisen Mannes und stieg wieder zu der Felswand empor. Sobald die Glocken zu läuten begannen, ging das Tor auf. Sie stürzte hinein, hatte kein Auge mehr für die Goldzapfen, das kleine Mädchen aber saß noch auf dem Stein, auf den es die Mutter vor einem Jahr gesetzt hatte und spielte mit Goldstücken. Lächelnd streckte es die Händchen nach der Mutter aus und sagte: „Mutter, du bist doch erst gestern dagewesen!“ Jubelnd riß sie ihr Kind an die Brust, um schon im nächsten Augenblick aus der Höhle zu eilen. Keinen Blick hatte sie für das viele Gold, sie sah nur ihr gerettetes Kind, das war ihr größter Schatz. Zu Hause erzählte die Kleine, daß eine schöne weiße Frau ihr Speise und Trank gebracht, immer mit ihr gespielt und sie liebevoll betreut hatte. Manchmal sei statt der weißen Frau ein Bock gekommen, um alles notwendige zu bringen.

Anm.: Peterstag: Peter und Paul; 29. Juni; nach einer anderen Überlieferung öffnet sich das Tor am Fronleichnahmstag während der Prozession. Die Version von Lobenstock (1895) ist die einzige Version, die auf der Hinterberger Seite des Grimming spielt, dort wird als Aufenthaltsort der armen Frau die Grimmingalm angegeben, die Frau ist dort eine Sennerin, und das Grimmingtor wird dort nicht erwähnt. Diese Version ist auch stark literarisch ausgeschmückt, weshalb ich mich für die Wiedergabe der Ennstaler Variante entschieden habe, die weitaus besser durch Primärquellen, insbesondere durch Karl Haiding, belegt ist. Dennoch habe ich einige der literarischen Ausschückungen übernommen. Die Sage vom vergessenen Kind im Berg ist in Hinterberg auch vom Pötschenwald bekannt (siehe Krainz 1880). Es kommt durchaus häufig vor, dass die gleiche Sage mit unterschiedlichen, nicht weit voneinander entfernten Schauplätzen überliefert wird.

Quelle: Sagenhaftes Hinterbergertal, Sagen und Legenden aus Bad Mitterndorf, Pichl-Kainisch und Tauplitz vom Ende der Eiszeit bis zum Eisenbahnbau, Matthias Neitsch. Erarbeitet im Rahmen des Leader+ Projektes „KultiNat“ 2005 – 2007.
© Matthias Neitsch