Der Erzbischof von Salzburg und der Bauernknabe

Im Jahre 1850 kam Seine erzbischöfliche Gnaden nach Brixen im Tal, einem kleinen Dörflein zwischen Hopfgarten und Kitzbühel, welches am Fuße der hohen Salfe ausgebreitet liegt, um die Heilige Firmung zu spenden. Nachdem die heilige Zeremonie vorüber war, erteilte der Bischof den Kindern den katechetischen Unterricht und stellte ihnen Fragen in betreff der Religion. Die Kinder beantworteten alle Fragen zur Zufriedenheit des Bischofs. Da sagte seine Eminenz: "Kinder, ich bin mit euch sehr zufrieden; zur Belohnung dürft auch ihr mir eine Frage stellen, und ich muß sie auch beantworten." Die Kinder schauten einander etwas betroffen an; nur ein kleiner Knirps von etwa neun Jahren blickte schelmisch unter seinem gesenkten Köpfchen hervor und lächelte verstohlen. Der Erzbischof sah es und sagte zu dem Kleinen: "Du, Kleiner, ich sehe es dir an, daß du mich etwas fragen willst." Doch der Knabe war verlegen; endlich, auf die Ermutigung seines Religionslehrers, sagte er: "Ja, i wissat schon eppas, aber i trau ma nit." - "Ja, trau dir nur", sagte der Bischof, "und wenn er dir nicht antworten kann, so muß sich dein Bischof schämen, daß er nichts weiß." Der Kleine sagte ganz keck: "Ja, so sag' mir, wann der Weg müad wor'n ist, wann das Wassa dürst' hat und wann das Leben g'storb'n is?" Seine Eminenz und die Herren schauten einander an und lachten, aber antworten konnte keiner. Da sagte der Knabe: "Ja, das werd's wohl do wissen, daß der liebe Jesus g'sagt hat: I bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Und mit'm Kreuztrag'n is er so müad wor'n, daß ihm aner trag'n hat helfen müassen, weil er z'samm'g'fall'n is. Und am Kreuz oben is er g'storb'n. Und auch das hat der liebe Jesus gesagt: "Ich bin die Quelle des lebendigen Wassers", und am Kreuz hat er gerufen: "Mich dürstet"." Da fragte der Bischof den Knaben: "Wer hat dir das gesagt?" Dieser antwortete: "Das hat mir mei Großmuata g'sagt, weil mir dö öfter allerhand vom Herrgott vazählt." Der Bischof sagte zu den Herren: "So ein altes Weiblein hat oft mehr Sinn für Religion als ein hoch Studierter. Das werde ich mir merken, daß ein einfaches Tiroler Bergkind mich überfragte."

Quelle: Elise Wendlinger,Kitzbühel, in: ZföVk. 15, 1909, S. 42, zit. nach Leander Petzold, Sagen aus Salzburg, München 1993, S. 265.