Der weiße Hirsch

Vor ungefähr sechzig Jahren lebte in der Flachau ein gewisser Premstaller, Holzarbeiter, weit und breit als gefürchteter Wildschütz bekannt. Der stieg eines Tages über die Marbachalpe das Penzeck hinan und wählte hoch oben über den Eiswänden seinen Stand auf Gemsen. Auf einmal knistert's und raschelt's im Laub, Premstaller fahrt blitzschnell mit dem Stutzen an die Wange, läßt ihn aber erschreckt sofort wieder sinken, denn wenige Schritte vor ihm steht ein blendendweißer Hirsch, dessen feurige Augen minutenlang auf ihn gerichtet sind. Endlich macht das unheimliche Tier kehrt und ist ebenso rasch, als es erschienen, wieder verschwunden.

Von Angst erfüllt und in tiefe Gedanken versunken kehrt der Wildschütz heim und gelobt sich, nie mehr auf die Jagd zu gehen; denn er wußte nur zu gut, daß der, welchem ein weißer Hirsch begegne, Schaden an seinem Leben nehme. Nach und nach vergaß jedoch Premstaller seines Gelübdes, die alte Leidenschaft erwachte in ihm aufs neue; er wagte es wieder einmal und ging auf die Jagd. Er hatte sein Schicksal selbst heraufbeschworen; nimmer kehrte er lebend zurück. Vierzehn Tage später fand man seinen Körper ganz zerschellt unter den Eiswänden.

Anmerkung: Vergleiche auch das Thema "Der weiße Hirsch" unter den Sagen der Gegenwart, Vorarlberg

Quelle: R. von Freisauff, Salzburger Volkssagen, Bd. 1, Wien/Pest/Leipzig 1880, S. 380 f, zit. nach Leander Petzold, Sagen aus Salzburg, München 1993, S. 252.