Die Wilden Frauen von der "Stoanerwånd"


Am Ausgang des Dürnbachtales zwangen früher weiße Kalkfelsen den Bach in eine kurze Schlucht. Heute befindet sich in dieser Enge die größte Wildbachsperre und der Dürnbach bildet dort einen Wasserfall. Die schöne Kalkwand am westlichen Bachrand ist die "Stoanerwånd". Oberhalb sind die Wiesen des Taubensteinbauern, des Stoanerbauern.

In dieser Wand war lange eine Höhle zu sehen, das "Wildfrauenloch". Einst sah man dort die weiße Wäsche der Wilden Frauen im Wind flattern. Wenn sie ihre langen, roten Haare kämmen wollten, ließen die Frauen sie über die Felsen herunter hängen.

Die "Stoanerwånd © Leni Wallner
Die "Stoanerwånd", Neukirchen
© Leni Wallner


Einmal kletterte ein verwegener Bursche hinauf und wollte nach dem Zopf greifen. Er konnte ihn aber nicht erwischen und fiel herab. Beim Sturz aus der Wand hat er sich nicht weh getan, er blieb aber für den Rest seines Lebens ein Stotterer, ein "Giggitzer".

Die Wilden Frauen waren groß und kräftig - und sehr scheu. Eine von ihnen war lange Zeit Baudirn (das ist die ranghöchste Magd) beim Stoanerbauern. Ein Knecht verliebte sich in sie und hätte sie gern geheiratet. Doch die schüchterne Magd wollte das nicht. Der Knecht bedrängte sie aber immer wieder, und so verließ die Wildfrau eines Tages den Hof. Die Bäuerin war dem Knecht sehr böse, denn das Mädchen war eine besonders gute und fleißige Arbeiterin gewesen.

Vor dem Weggehen schenkte die Wilde Frau der Bäuerin ein Garnknäuel. Sie sagte: "Die Wolle und was du daraus strickst kannst du verkaufen. Was sonst noch hergeht, musst du verschenken. Und du darfst niemandem verraten, von wem du das Knäuel hast." Zuerst verstand die Stoanerin diese Worte nicht, aber dann bemerkte sie, dass die Wolle nie zu Ende ging. Durch den Verkauf der Wolle wurde sie eine reiche Frau. Die anderen Dinge, die zum Vorschein kamen - es waren Ringe, Broschen, Ohrringerl - verschenkte sie. Das führte zu großem Ansehen und die Stoanerin war weitum beliebt.

Einmal wickelte sie ein wunderschönes, goldenes Kreuzerl heraus. "Das bekommt mein Godnkind", dachte sie. Aber es gefiel ihr so sehr, dass sie es schließlich doch selbst behielt. Und es dauerte nicht mehr lange und der Faden ging zu Ende.

Andere alte Leute erzählten, dass die Stoanerin ihrer Nachbarin, der Zenzenbäuerin, bei einem Kirchgang das Geheimnis verraten hätte. Damit hatte das Zauberknäuel auch seine Kraft verloren.

An einem kalten, nebligen Herbsttag ging einmal eine Wilde Frau in Neukirchen von Haus zu Haus und sagte: "Der Himpm-Hump ist gstorbm. Bittschön ums Kirchengehn, s Begräbnis is morgen!" Die Leute rätselten, denn sie kannten keinen mit diesem Namen.

Bald darauf verschwand die letzte Wildfrau aus der Höhle in der Stoanerwand. Sie ist wahrscheinlich zu ihrer Schwester in die Nößlingerwand gezogen ...


Sagen von Wilden Frauen ("wild" ist hier als "scheu, schüchtern" zu verstehen) deuten auf eine frühe Besiedlung der Gegend hin. Es gibt Wildfrauen-Sagen auch von der Nößlingerwand in der Nähe vom Falkenstein (Vorderkrimml), der vor mehr als 3000 Jahren schon besiedelt war (belegt durch Ausgrabungen). Es könnte durchaus sein, dass auch das kleine Plateau des Taubenstein - Bauern um diese Zeit schon bewohnt war. Belege durch Funde gibt es bisher keine. Die Frauen werden oft als groß, kräftig und rot- oder hellhaarig beschrieben. Es waren wohl keltische Frauen...

Quelle: Helene Wallner, Sagensammlerin und -führerin, Emailzusendung vom 3. Mai 2005