Die Reiche Spitze

Unter anderen hatte auch ein Venediger von den unermeßlichen Reichtümern der Reichen Spitze gehört. Er machte sich auf, ging in ein Bauernhaus des benachbarten Tales, um einen Knecht zu finden, der ihm als Führer diente. Nach vielem Bitten und Zureden ließ sich denn auch einer herbei, ihn zu begleiten, bedingte sich aber einen Führerlohn von acht Talern aus, die ihm jener ohne Widerrede zusicherte. Beide gingen nun bis auf die G'schwand neben der "Urlesboden-Alm" an der Grenze des Zillertales und des Salzburger Gebietes. Auf der G'schwand, von der aus man die Reiche Spitze erblickt, machte der Venediger Halt, zog einen Kreis, trat in denselben und forderte seinen Führer auf, ein Gleiches zu tun. Hierauf nahm er ein Buch aus seiner Tasche und las eine Weile laut etwas vor, aber in einer gar wunderlich klingenden Sprache. Da kam von der Reichen Spitze herab ein als Jäger gekleideter Mann, trat vor den Kreis hin und fragte den Venediger, was er wolle.

"Dreißig Pfund gediegenen Goldes!" antwortete dieser ohne aufzublicken. Der Jäger verschwand, kehrte aber nach einer Weile wieder und setzte sich neben dem Kreise auf einen kleinen Sack, den er eben mitgebracht hatte. Der Venediger las ohne Unterbrechung weiter, und der Knecht neben ihm sah, wie der Jäger mit dem Sacke wieder aufwärts eilte. Da aber der Venedig er fortlas, kam der Jäger ein drittes Mal, warf den Sack, der dreißig Pfund gediegenen Goldes enthielt, in den Kreis und verschwand wieder. Da der Knecht nun verlangte, daß jener das Gold mit ihm teile, meinte der Venediger: "Du erhältst deine acht Taler. Wärest du bereitwilliger gewesen, so hätte ich sechzig statt dreißig Pfund von den drei Männern verlangt, und du wärst jetzt ein reicher Mann, gleich mir!" Und dabei blieb's.

Quelle: R. von Freisauff, Salzburger Volkssagen, Bd. 2, Wien/Pest/Leipzig 1880, S. 590 f, zit. nach Leander Petzold, Sagen aus Salzburg, München 1993, S. 208.