DIE TSCHITSCHANAKAPELLE BEI NEUSEß

An der Straße von Mauterndorf nach St. Michael erhebt sich unweit der Ortschaft Neuseß eine hohe gotische Kapelle, die im Volksmund unter dem Namen „Tschitschana-Kreuz" bekannt ist. Der Name stammt von einem alten Bauerngehöfte, welches hier in der Nähe lag und dessen einstige Bewohner wohl die Kapelle erbaut haben. Im Jahre 1911 ließ der Besitzer des Grillhofgutes in Neuseß die schon arg verwahrloste Kapelle, deren verwittertes Äußeres noch Spuren einstiger Malerei verriet, stilgemäß erneuern, so daß sie ein stattliches Aussehen erhielt und einen hervorragenden Platz unter ihresgleichen einnahm. Die Kapelle ist Maria vom guten Rate geweiht, deren schlichtes Tafelbild das Innere der Kapelle ziert. Das Muttergottesbild trug, bevor es übermalt wurde, eine Jahreszahl aus dem 17. Jahrhundert. Die Seitenwände zieren die hehren Gestalten der beiden Landespatrone Salzburgs, des heiligen Rupertus und Virgilius. An der Außenseite ist über dem hohen Eingangsbogen ein Bild, das die Verherrlichung Gottes darstellt, zu sehen.

Die Sage erzählt von einer Witwe, welche sich mit ihrem Kinde, einem Knaben, durch ihrer Hände Arbeit gar kümmerlich nährte. Einst kam die Frau mit ihrem Söhnlein zu dieser Kapelle, um ihre Andacht zu verrichten und um von der Gottesmutter Trost und Hilfe für sich und ihr Kind zu erflehen. Während sie nun der Himmlischen ihr Leid klagte und sie um ihre mächtige Fürbitte anrief, sprang der Knabe draußen umher, las Steine auf und steckte sie in die Tasche. Beim Fortgehen hinderten ihn die schweren Steine sehr und er wollte auf Geheiß der Mutter sich ihrer wieder entledigen. Doch als er sie aus der Tasche nahm, da schimmerten die Steine in gar wundersamem Glänze und lauteres Gold hielt er in den Händen. Ihre Not hatte für allemal ein Ende.

Eine andere Sage berichtet von einem Wanderer, der, als er bei der Kapelle Rast hielt, plötzlich ein Geldstück vor sich liegen sah. Während er dieses aufhob, sah er noch einige andere herumliegen und hob auch diese auf, und so ging es fort, bis er seine Tasche damit gefüllt hatte. Befriedigt zog er seines Weges weiter. Doch bald gereute es ihn, daß er nicht noch nachgeforscht und sich nicht mehr von dem Gelde angeeignet hatte. Er kehrte um, um seine Suche nochmals zu beginnen, fand aber nichts mehr. Der alte Petzlbauer am Moos erzählte des öfteren auch von zwei Straßenräubern; diese hätten in der Umgebung ihr Unwesen getrieben. Die beiden Raubgenossen wurden verfolgt, und sie flüchteten über den Katschberg, nachdem sie zuvor ihre Schätze bei der Tschitschanakapelle vergraben hatten. In Kärnten aber wurden die beiden festgenommen und dem Richter übergeben.


Quelle: Michael Dengg, Lungauer Volkssagen, neu bearbeitet von Josef Brettenthaler, Salzburg 1957, S. 63