Die Staudinger-Hexe

Noch immer lebt im Volke die Sage von der Staudinger-Hexe. Sie war die Tochter des Staudingerbauern in Steindorf und als Hexe verschrien. Als Sennerin auf der Staudinger-Alm im Twenger Tale wurde sie vom Zauberer-Jackl, den Wölfen und anderen Zauberern öfters besucht und in der heimlichen Kunst der Zauberei und Geisterbannerei unterrichtet. Sie war schon längst anrüchig, mit allen Hexen und Zauberern des Landes in Verbindung zu sein, und sie stand im Verdacht, an deren nächtlichen Zusammenkünften auf dem Speiereck, wo in Gegenwart des "Höllischen" allerlei Hexentänze aufgeführt und anderer Zauberspuk getrieben wurde, teilzunehmen. - Als ihre Mutter, die Staudingerin, das Gerücht vernahm, daß ihre Tochter eine leibhaftige Hexe sei, stellte sie dieselbe zur Rede und fragte sie, ob es wohl wahr sei, was die Leute von ihr reden: daß sie eine Hexe sei und Zauberei treiben könne. Da sagte die Tochter: "Sieh, Mutter, ich bin imstande, während du das Eiermus kochst, auf einem Besenstiel nach Salzburg zu fahren und ehe das Mus fertig ist, wieder zurück zu sein." Als Beweis dafür nahm sie einen alten Kehrbesen, bestrich dessen Stiel mit einer Salbe, setzte sich darauf und fuhr durch den Rauchfang hinaus. Und ehe die Mutter mit dem Eiermus fertig war, kehrte die Tochter von ihrer Salzburgfahrt, zu der sie kaum eine Viertelstunde gebraucht hatte, wieder zurück.

Der Zauberei angeklagt, wurde sie vom Gerichtsschergen nach Moosham eingeliefert und sofort in den Hexenzwinger geworfen. Nach halbjähriger qualvoller Haft wurde sie zum Feuertode verurteilt; diese Strafe sollte auf der alten Richtstätte am Passeggen an ihr vollstreckt werden. Als ihre Mutter hievon Nachricht erhielt, wollte sie eine Wallfahrt zum wundertätigen Gnadenbilde der Muttergottes von Mariapfarr machen, um von der himmlischen Gnadenmutter eine glückliche Sterbestunde für ihre Tochter zu erflehen. Als die Staudingerin, so erzählt die Sage, auf ihrem Wege bei den drei Kreuzen angelangt war und zufällig in der Richtung gegen die Passeggen blickte, sah sie dort eine mächtige Rauchwolke aufsteigen. Da fiel die unglückliche Mutter vor Schreck ohnmächtig zusammen, denn sie wußte nun, daß der Scheiterhaufen angezündet und ihre Tochter eben daran war, auf demselben bei lebendigem Leibe zu verbrennen.

Quelle: Michael Dengg, Lungauer Volksleben. Schilderungen und Volksbräuche, Geschichten und Sagen aus dem Lungau, Tamsweg 1913; neu bearbeitet von Josef Brettenthaler, Salzburg 1957, S. 188f.