Der Ritt durch den babylonischen Turm

In der Maria Pfarrkirche in Lungau befindet sich in der linken Ecke oberhalb des Taufbeckens ein Denkstein, einen Helm mit geschlossenem Visier, einen Schild und den Fuß eines großen Raubvogels mit ausgestrecktem Gewäffe darstellend. Ebendaselbst befand sich früher anstelle des Taufsteines der Grabstein eines Ritters, "Chonnrat der Tannhäuser", welcher nunmehr an der Außenseite der Kirchenmauer angebracht ist. Davon erzählt die Sage folgendes:

Ein Ritter, der sich schwer vergangen, wurde zum Tode verurteilt, wiewohl er behauptete, unschuldig zu sein. Da indes die Richter ihrer Sache dennoch nicht ganz sicher waren, so sollte das Gottesurteil entscheiden. Es wurde ihm demnach aufgetragen, um die Mitternachtsstunde den babylonischen Turm auf seinem Schlachtrosse zu durchreiten; derselbe maß zwölf Stunden im Umkreise und drei Stunden im Durchmesser, war von lauter greulichen Bestien, verbannten Seelen in Gestalt von Tigern, Krokodilen, Lindwürmern, Molchen, Drachen, riesigen Schlangen, Geiern, Adlern und - dem schrecklichen Vogel Greif bewohnt. Im tiefsten Innern hauste der Meister aller Quälgeister, der leibhaftige Groß-Luzifer in schrecklicher Gestalt; seinem Willen beugten sich alle Bewohner des Höllenpfuhls und waren ängstlich seines Winkes gewärtig, mit dem Geheule der wilden Jagd durch den weiten Turm rasen zu müssen. Nur in der Stunde vor Mitternacht ruhten sie von der dreiundzwanzigstündigen fürchterlichen Jagd, um mit dem zwölften Glockenschlage wieder von vorne zu beginnen. Wenn es daher jemand wagte, in diesen Höllenpfuhl hinabzusteigen, so mußte er dies, wollte er nicht unrettbar verloren sein, in der Ruhestunde tun. So tat's denn auch der Ritter. Punkt elf Uhr begann er seinen unheimlichen Ritt; pfeilschnell trug ihn sein Roß durch das Tor in den inneren Raum des Turmes, den er im Sturmgebrause durchmaß. Nichts regte sich. Links und rechts am Wege reihte sich Ungeheuer an Ungeheuer, noch im Schlafe befangen, aus dem erst das Mitternachtshorn sie erwecken sollte. Schon sieht der Ritter das Ausgangstor vor sich, nur noch zwei Minuten, und er ist geborgen, da plötzlich ertönt des Hornes Schall, und im Nu sind alle Bestien entfesselt. In letzter Kraftanstrengung geißelt derRitter sein Streitroß auf - vergebens; hinter sich vernimmt er bereits mit Entsetzen das Rasen des wilden Heeres. Heran kriechen Drache, Lindwurm und Molch, noch entkommt ihnen der Reiter auf seinem mutigen Roß - da, fast am Ziele des schrecklichen Rittes, braust es durch die Lüfte, und in die Lenden des Rosses krallt sich der schrecklichste der Raubvögel, der Vogel Greif. Wild bäumt sich das arme Tier auf im fürchterlichen Schmerze, das andere Geschmeiße naht mit Sturmeseile, und sicher wäre der Ritter verloren gewesen, hätte nicht Gott ihm Mut und Geistesgegenwart gegeben. Behende riß er das Schwert aus der Scheide und trennte mit gewaltigem Hiebe die eingekrallten Pranken vom Leibe des Untiers; in letzter Kraftanstrengung holte das Roß zum mächtigen Sprunge aus und stand im nächsten Augenblicke mit dem Ritter gerettet im Freien.

Quelle: R. von Freisauff, Salzburger Volkssagen, Bd.2, Wien/Pest/Leipzig 1880, S. 652f, zit. nach Leander Petzold, Sagen aus Salzburg, München 1993, S. 117.