DIE WÖLFE IN DER CHRISTNACHT

In früherer Zeit, als in Lungaus schönen grünen Wäldern die Wölfe hausten und auch mancherlei anderes Raubgetier sein Unwesen trieb, war es oftmals gefährlich, so allein auf einsamen Waldpfaden zu wandeln. Man erzählt sich heute noch viel von den zur kalten Winterszeit rudelweise umherstreifenden Wölfen, die nicht selten, von der Not getrieben, den menschlichen Behausungen sich näherten und Menschen und Vieh bedrohten. Die größte Gefahr bestand für die Bewohner einsamer, entlegener Gehöfte, welche besonders zur kalten Jahreszeit, wenn tiefer Schnee das Land bedeckte, von diesem Raubgetier förmlich umlagert wurden. Es war daher nicht ratsam, im Winter, besonders zur Nachtzeit, sich allein vom Hause zu entfernen. Gar oft sah der des Weges ziehende Wanderer aus dem Waldesdunkel ein Paar funkelnde Wolfsaugen hervorleuchten, welche mit Begier nach einem fetten Bissen Ausschau hielten. Deshalb ging man auch in der Christnacht gemeinsam, unter Vorantragen brennender Fackeln, den stundenweiten Weg zur Kirche. Dabei geschah es nicht selten, daß Leute auf ihrem nächtlichen Kirchgang lauernden Wölfen begegneten.

Einmal eilte ein Hirtenknabe auf dem Mitternachtsgange in der Christnacht den übrigen voraus. Da sah er plötzlich über sich auf einer Felswand einen Wolf, der lauernd auf ihn herabsah. Der Hirte, welcher glaubte, es sei ein Hund, blieb neugierig stehen und schaute hinauf. Unterdessen näherten sich die anderen und fragten ihn, was er denn sehe. „Jo", sagte der Hirtenknabe, „da drob'n is hiatz a Hund g'standn und der hat krat obakoib (bellt) auf mi!" Die anderen lachten ihn darob aus und sagten ihm, daß dies ein Wolf wäre. Nun erst bekam der Knabe Angst und floh eilends von dem gefährlichen Orte.

Ein andermal ging ein Rudel Wölfe, von den hinterher folgenden Mettengehern getrieben, vor diesen her. Erst als sich die Leute nahe dem Pfarrdorf befanden, nahmen die Wölfe Reißaus und verschwanden im nahegelegenen Walde. Heute sind diese reißenden Tiere im Lungau längst verschwunden, der letzte Wolf soll dort vor etwa 200 Jahren geschossen worden sein.


Quelle: Michael Dengg, Lungauer Volkssagen, neu bearbeitet von Josef Brettenthaler, Salzburg 1957, S. 41