DER RADSTÄDTER TAUERN

Der Radstädter Tauern, den schon die Römer zu ihrem Übergang erkoren hatten, ist reich an Naturschönheiten und gar manche alte Sage webt um die einsamen Kare und Gipfel. Wenn man auf der Höhe des Seekares steht und auf die Pon-gauer Seite hinunterschaut, so erblickt man tief unten in einem Felsenkar einen kleinen, von hellgrünen Lärchenbäumen umstandenen See, dessen klares, hellschimmerndes Auge gar freundlich zu uns herauflugt. An schönen Sommertagen erglänzt er im reinsten und klarsten Blau, als ob ein Stück des Himmels hineingelegt wäre. Man sagt, dies komme von einem Farbsteine her, der im Innern des Berges liege und mit welchem der See durch unterirdische Wässerlein in Verbindung stehe.

Auf der Südseite des Seekares, gegen den Lungau, liegt der Grünwaldsee. An sonnenhellen Tagen funkelt er wie ein Smaragd. Unweit davon befindet sich die Wurmwand. Hier soll einst ein schrecklicher Drache gehaust haben, der viel Unheil anrichtete und daher weitum gefürchtet war. Als man ihm zu Leibe rückte und er sich von allen Seiten verfolgt sah, fuhr er mit großem Getöse zischend in den See, der sich von der Flüssigkeit, welche dieses Ungeheuer von sich gab, dunkelgrün färbte.

Im Seekar befand sich einst ein Bergwerk, in dem Silber und Kupfer abgebaut wurde. Dort hausen die Bergmännlein und bewachen die Schätze — und gar mancher Knappe ist ihnen schon begegnet. Gleich unterhalb der Gamskarspitze, östlich vom Tauernkar, liegt der Tauernstraße zugewendet ein kleines Felsenkar, das Gamskarl. Dort sieht man gar oft die Gemsen sich tummeln und in lustigen Sprüngen das Felsengewände durchklettern. Gehen sie bergwärts, deutet dies auf schönes Wetter, sonst kommt der Tauernwind mit Schnee.

Der durch das Hundsfeld fließende Seekarbach tritt unterhalb des Kirchbühels, nahe der Straße die zum Tauernwirtshause führt, aus einer engen Felsenschlucht hervor. Etwas dahinter stürzt er unter schäumendem Getöse durch das wildromantische :Geklüfte und über eine jähe Felswand. Gerade neben dem Wasserfall ist an derselben Wand eine Öfnung zu sehen, gleich einem großen Fenster, durch welches der Absturz des pfeilschnell abschießenden Wassers am besten beobachtet werden kann. Nach sagenhaften Gerüchten soll der Almbach einst durch diese Felsenöffnung abgeflossen und erst später durch den, teilweisen Einbruch der Felswand in sein jetziges Flußbett getreten sein.

Auf der Hohe des Tauernpasses liegt der Tauernfriedhof, in welchem die früheren Bewohner des Tauernwirtshauses sowie die Opfer des Berges, die verunglückten Tauernwanderer, begraben liegen. Es wird erzählt, daß Erzherzog Johann, der begeisterte Freund unserer Alpen, in diesem Friedhof eine der schönsten und seltensten Alpenblumen des an Pflanzen so reichen Tauerngebirges gefunden habe. Es ist dies die sogenannte blaue Binse oder Wulfen *) (Lomatogonium Carinthiacum), die hier einst im schönsten blauen Farbenschmelz erblühte und die seither nahezu ausgestorben ist.

An der äußeren Friedhofsmauer wurden vor etwa 100 Jahren allerlei Funde aus der Römerzeit gemacht, u. a. Münzen, Waffen und Werkzeuge. Nach einer alten Sage soll hier eine römische Mansio **), die spater in ein Hospital umgewandelt wurde, gestanden sein. Hier beim Tauernfriedhof, dem römischen „In Alpe", erreichte dieser wichtige Straßenzug der Römer seinen höchsten Punkt, und heute erinnert an der Straße etwas weiter gegen Norden die trutzige Steingestalt eines Legionärs an die Zeit, da die gepanzerten Scharen in die jenseitigen Täler zogen, hinaus nach Juvavum und gegen die Reichsgrenzen an der Donau.

Von der Tauernstraße aus hat man einen schönen Blick in das „Twenger Aibl", in dessen Schoße ein See liegt. Dieses Gewässer und der jenseits des Gebirgskammes auf der Weißpriacher Seite gelegene Schönalpensee sollen unterirdisch miteinander verbunden sein.

Weiter talwärts erhebt sich die Satanswand, an welcher der Satan bei seiner Abfahrt mit den Krallen tiefe Furchen in das Gewände riß. Ihr gegenüber ruht der „Schlafende Mönch", welcher sich einen Berg ais Kopfkissen wählte. - So ist das mächtige Tauerngebirge überall, wohin man auch blickt, vom Zauber der Sage umsponnen.

So schön der Tauern im Sommer,ist, ebenso schrecklich und gefährlich kann er im Winter werden. Außer den Schneestürmen sind es besonders die Lawinen, die den Tauernwan-derer bedrohen und sein Leben gefährden. Gar manchen schon hat hier in alter Zeit, da der Tauern völlig verlassen lag, der Weiße Tod ereilt. Der Friedhof auf der Höhe des Tauern-passes weiß davon zu erzählen. Wenn man die Tauernstraße begeht, trifft man hin und wieder eine Warnungstafel, darauf zu lesen ist: „Ahorn-Lahn", „Breit-Lahn", „Juden-Lahn", „Weiße Lahn" usw. Damit sind die lawinengefährlichen Stellen aufgezeigt und der Wanderer wußte, daß er hier besonders auf der Hut sein sollte. Eine Lawine ist ein gar gefährliches Ding. Sobald man ihrer gewahr wird und das Sausen und Brausen vernimmt, kommt sie auch schon mit Sturmeseile angefahren und wehe demjenigen, der sich nicht rechtzeitig zu retten vermag; er wird von dem vorauseilenden Wind erfaßt, zu Boden geschleudert und von den nachfolgenden Schneemassen erdrückt und begraben.

Zu den gefährlichsten Lawinenstellen gehört die „Juden-Lahn", so benannt, weil an dieser Stelle einmal vorüberziehende Juden von einer niederfahrenden Lawine erfaßt und begraben wurden. Sie befindet sich unterhalb der Tauernhöhe, unweit des Schaidberghotels. Hier sind schon viele Lawinenunglücke geschehen. Im Jahre 1807 fanden an dieser Stelle sieben Menschen den Tod. Ein schreckliches Lawinenunglück ereignete sich hier auch im Jahre 1862. Es war an einem stürmischen Wintertage, als Paul Perner, Raderbauer in Tweng, als Salzfrächter mit seinem Ochsengespann über den Tauern fuhr. Er kam mit noch anderen Fuhrleuten gerade an der „Juden-Lahn" vorüber, als plötzlich eine gewaltige Lawine herniederdonnerte und sämtliche Fuhrwerke unter sich begrub. Die Fuhrleute entrannen nur mit knapper Not der todbringenden Lawine. Nur einer, Perners Kamerad, der Lack'n-Hans, lag tot unter ihr begraben. Von den 26 Zugochsen, die alle unter die Lawine geraten waren, konnten 10 gerettet werden, während die übrigen Zugochsen dabei zugrunde gegangen waren.

Eine gefährliche Lawinenstelle ist auch die unterhalb Schaid-berg sich hinziehende breite Lahn, kurzhin „Breit-Lahn" genannt. Sie hat eine Ausdehnung von fast einem Kilometer. Hier sausen bei großem Schneefall im Winter und bei Tauwetter im Frühjahr wuchtige Schneemassen über die hohen Wände nieder, mächtige Felsblöcke, abgerissene und entwurzelte Bäume, Wurzelstöcke u. dgl. mit sich führend und alles, was sich ihnen in den Weg stellt, vernichtend.

Eine halbe Stunde nördlich von Tweng befindet sich die „Achner-" oder „Ahorn-Lahn". Zu Anfang des vorigen Jahrhunderts kamen zwei Katschtaler Fuhrleute mit ihren von acht Ochsen bespannten Güterwagen an dieser Stelle vorüber. Da sauste, vom sonnseitigen Gehänge kommend, eine Lawine hernieder, und Fuhrleute und Ochsen waren verschwunden. Während der eine Fuhrmann von den rasch herbeieilenden Tauernwegmachern gerettet werden konnte, wurde der andere tot aus der Lawine gezogen. Auch die acht Ochsen, die durch die Gewalt der Lawine von ihren Strängen losgerissen und in ein unterhalb befindliches Gehölz geschleudert wurden, konnten gerettet werden. Ein ähnliches Unglück traf später den Bruder des Zenzenbauern in Tweng, Johann Prodinger, der mit noch einem Fuhrmanne Vorspann leistete. Beide fanden durch eine von der „Ahorn-Lahn" abstürzende Lawine den Tod. Zur Zeit des Krieges mit Napoleon reisten oft kaiserliche Offiziere bei stärkster Lawinengefahr über den Tauern; sie brachten wichtige Depeschen von einem Kriegsschauplatz zum anderen.

Der alte Tauernvorgeher Josef Gruber erzählte, daß während seiner 36jährigen Tätigkeit als Tauernwegmacher (1810 bis 1846) auf der Lungauer Seite des Tauern 14 Menschen zugrunde gegangen seien. Aber noch viel größer ist die Zahl derer, denen dieser wackere Mann das Leben gerettet. Gruber lag selbst einmal drei Stunden lang in der „Juden-Lahn" unter einer Lawine begraben, bis es seinen Kameraden, den Tauernwegmachern, gelang, ihn daraus zu befreien.

Heute führt uns zur Sommer- wie zur Winterzeit das Postauto rasch und gefahrlos über den Tauern und wenn der Schnee meterhoch das Land bedeckt, zieht das fröhliche Volk der Schifahrer über jene Höhen hin, die einst den Schrecken der Tauernwanderer bildeten.

*) Auch Wulfenia genannt.
**)Bine Herberge.


Quelle: Michael Dengg, Lungauer Volkssagen, neu bearbeitet von Josef Brettenthaler, Salzburg 1957, S. 19