DER GEIST DES SCHÖRGEN-TONI

In den Fluten des Rotgüldensees haust seither der Schörgen-Toni. Sein ruhelos umherirrender Geist aber wurde auf das Speiereck, den Berg nahe bei Mauterndorf, verbannt. Da er Steine und Felstrümmer auf das am Fuße des Speierecks weidende Vieh herabschleuderte, in mitternächtiger Geisterstunde öfters Besuche von Hexen und Zauberern empfing und böse Wetter machte, so wurde er über flehentliches Bitten der Leute, die ihr Vieh sich nicht mehr auf die Alpe zu treiben getrauten, in den zuhinterst im Murwinkel befindlichen Rotgüldensee verbannt. Dort haust er nun und ängstigt durch allerlei Schreckgestalten zuzeiten die Wanderer, welche in die Nähe dieses Sees kommen. Er läßt sich bald als feurige Kugel sehen, welche funkensprühend sich über den See wälzt; bald fährt er auf feurigem Wagen, mit zwei blauen Böcken bespannt, zischend über den See, bald schwimmt er als getigertes Pferd und durchfurcht wild plätschernd die Wellen des sonst ruhigen Gewässers. Manche Leute erzählen wieder, sie hätten ihn als „einen feurigen Schab" — eine Strohgarbe — auf dem See umherschwimmen gesehen. Es war vor vielen Jahren, als der Jäger-Hiasl, ein kühner Gemsenjäger aus dem Katschtale, am Gewände oberhalb des Sees herüberstieg; da sah er im See eine ungeheure Schlange mit furchtbaren Augenrändern. Allein der Jäger-Hiasl ließ sich durch den Anblick nicht schrecken, er nahm seinen Kugelstutzen von der Schulter und zielte gerade auf die Mitte des riesigen Kopfes. Da richtete sich das Untier haushoch empor und steuerte in gewaltigen Windungen auf den Hiasl los. „Das ist der leibhaftige Schörgen-Toni", dachte voll Schrecken der Hiasl; er bekreuzigte sich und suchte, so schnell ihn seine Füße tragen konnten, das Weite. Von da an ließ sich der Geist des Schörgen-Toni im Rotgüldenseetal nicht mehr blicken.


Quelle: Michael Dengg, Lungauer Volkssagen, neu bearbeitet von Josef Brettenthaler, Salzburg 1957, S. 110