DIE TAPFERE BURGVOGTSTOCHTER

In der Zeit, als noch kriegerische Fehden den Lungau durchtobten, hauste auf dem Schlosse Mauterndorf ein Burgvogt namens Walter. Dieser hatte ein Töchterlein mit Namen Anna, das ebenso schön als mutig war.

Eines Tages erschienen während der Abwesenheit ihres Vaters mehrere fremde Ritter samt Gefolge vor den Toren der Burg und begehrten Einlaß. Doch der Burgvogt hatte den Befehl gegeben, während seiner Abwesenheit das Schloß wohl zu bewahren und niemand einzulassen. Anna wurde von dem Erscheinen der Fremden verständigt, doch da sie den Befehl ihres Vaters kannte, ließ sie den außen harrenden Rittern diesen Bescheid mitteilen. Darob waren die Ritter ergrimmt und wollten sich mit Gewalt Einlaß verschaffen. Einer von ihnen, ein gewaltiger Kämpe, schleuderte seinen Speer mit solcher Wucht gegen das eisenbeschlagene Tor, daß er es durchbohrte. Da stieß der Torwart in sein mächtiges Horn und alarmierte die Besatzung. Alsbald erschien Anna an der Spitze einer bewaffneten Schar, um das Schloß zu verteidigen. Als die fremden Ritter das tapfere Mädchen inmitten einer Anzahl mutiger Kämpfer erblickten, ließen sie von ihrem Angriff ab, machten kehrt und zogen mit ihrem Gefolge von dannen. Die Öffnung aber, welche der fremde Ritter mit dem Speer gestoßen, ist heute noch sichtbar.


Quelle: Michael Dengg, Lungauer Volkssagen, neu bearbeitet von Josef Brettenthaler, Salzburg 1957, S. 111