Der Jägersprung

auf den waldigen Höhen des Unterberges, nächst der oberen Firmianalm, liegt eine Stelle, die der Volksmund den "Jägersprung" nennt. Ein steil abfallender Fels ragt hinaus in einem Abgrund von ungeheurer Tiefe, in dem die dunklen Wasser der Brunntales rauschen. Darüber berichtet die Sage folgendes:

Im Dorfe zu Grödig lebte vor vielen Jahren ein junger tüchtiger Jägersmann in Zufriedenheit und Glück. Nur eines trübte zuweilen sein sonst zufriedenes Gemüt, das war sein Nachbar Wehrling, ein junger Bursche, dessen größte Passion die Wilddieberei war. Willibald, so der Name des Jägers, war ihm schon einigemale ziemlich scharf auf der Fährte gewesen, allein nie war es ihm gelungen, ihn auf der Tat zu überraschen. Die Feindschaft zwischen den beiden stieg von Tag zu Tag und hatte endlich ihren Höhepunkt erreicht, als Willibald infolge einer verleumderischen Anklage Wehrlings von dem erzbischöflichen Hofgerichte fast ein Jahr unschuldig im Kerker schmachten mußte.

Kaum frei geworden, sann der Jäger auf Rache wider den Todfeind, der ihm diese Schmach angetan hatte.

Es war gegen Ende der Hahnenholz, da wanderte Willibald eines Tages noch vor Morgengrauen hinauf nach den Höhen. Sein Pfad führte ihn längs der Firmianalm und der Steinernen Stiege nach dem Roßkopf; an dessen oberer Hütte machte er Halt zu kurzer Rast und ließ sich auf einen Felsblock nieder.

Da, plötzlich knarrten deutlich Schritte in seiner Nähe; es deuchte ihn, als wenn jemand über den Schnee ginge; wer es sei, vermochte er indes durch das Krummholz hindurch nicht wahrzunehmen. Immer deutlicher ward das Geräusch, immer näher kamen sie Schritte, als sie plötzlich sich wieder entfernten, und zwar nach jener Seite hin, auf der die Schlucht und jener Platz gelegen war, welchen Willibald sich zur "Passe" ausersehen hatte.

Der Jäger säumte nicht länger und machte sich sofort auf, den nächtlichen Wanderer zu verfolgen. Vorsichtig, Schritt für Schritt vorwärts dringend, war er bald in seine Nähe gelangt. Noch hinderte ein Gesträuch den freien Ausblick. Der Wanderer hatte Halt gemacht und schien sich lagern zu wollen, denn vorwärts konnte er nicht mehr; vom gegenüberliegenden Felsen trennte ihn ein Abgrund von wenigen Klaftern Breite, während zu beiden Seiten die Felswände fast senkrecht aufstiegen.

Der Morgen war inzwischen vollends angerückt und als Willibald, das Geräusch eines Windstoßes benützend, die die Aussicht hemmenden Äste zur Seite bog, sah er zwei Schritte vor sich - seinen Todfeind Wehrling!

Da flammte der Gedanke an Rache mit erneuter Heftigkeit in ihm auf, im nächsten Augenblick hatte er den kleinen Raum, der ihm von jenem trennte, übersprungen und glaubte auch schon seinen Gegner mit mächtigem Griffe an der Brust zu fassen. Da, war's möglich? Der Wildschütz wagte den Sprung über den Abgrund.

Er rettete sich so Leben und Freiheit, was nach den damaligen strengen Gesetzen gegen Raubschützen unnachsichtlich verwirkt gewesen wäre. Von diesem Ereignis erhielt der Ort den Namen "Der Jägersprung".

Quelle: Karl Adrian, Alte Sagen aus dem Salzburger Land, Wien, Zell am See, St. Gallen, 1948, S. 146 - 148