Der Spielstein

Zur Zeit der Franzosenkriege hatte das gesamte österreichische Vaterland schwer zu leiden, und auch das Salzkammergut blieb nicht verschont. Da hieß es eines Tages im Sommer 1809, es sei eine Heeresgruppe Napoleons im Anmarsch, die wahrscheinlich über den Pötschenpaß kommen werde. Deshalb erhielt die Gemeinde Goisern den Befehl, den Wald längs der Pötschenstraße zu Schlägern, damit die Truppen in ihrem Zug nicht durch Bäume und dichtes Strauchwerk behindert würden.
Damals wollte aber gerade auch eine vielköpfige Zigeunerbande mit Kind und Kegel über den Pötschenpaß ins Steirische gelangen. Dieser Weg wurde ihnen jedoch verboten; so zogen sie unter Schimpfen und Murren von Goisern aus dem Sandling zu, voran die Väter und Söhne und hintennach die Rosse und Wagen mit den übrigen Mitgliedern der Sippe.
Die Männer schritten tüchtig aus und hatten bald ihre Familien aus den Augen verloren. Als sie endlich schon in der Nähe des Sandlings waren und einen vorgelagerten hohen Fels entdeckten, beschlossen sie, ihn zu ersteigen und dort oben das Nachkommen der ganzen Truppe abzuwarten. Die Zigeuner ließen sich also auf der geräumigen, flachen Steinplatte nieder, machten es sich im warmen Sonnenschein gemütlich und begannen zum Zeitvertreib ein eifriges Würfelspiel.
Ahnungslos ging zur selben Stunde die blonde Lena, eine gar hübsche Sennerin aus Goisern, von der nahegelegenen Sandlingalm herunter. Da sah sie plötzlich mit Entsetzen die dunklen Zigeuner vor sich, die beim Anblick des Mädchens alle aufgesprungen waren. Trotz ihrer heftigen Gegenwehr und lauten Hilferufen wurde sie sofort gefesselt und zu der Steinplatte geschleppt, wo die rauhen Männer um Lenas Besitz mit Leidenschaft zu würfeln begannen.
Ein junger, wilder Zigeuner warf die höchste Augenzahl und hatte damit die verzweifelte Sennerin gewonnen. Ohne Zögern wollte er nun mit seiner schönen Beute in den Wald flüchten, denn er hatte die Eifersucht seiner Kameraden zu fürchten.
Aber er kam nicht weit mit seiner Gefangenen - - da krachte von der Höhe ganz unvermutet ein wohlgezielter Schuß und der Zigeuner brach auf der Stelle tot zusammen.
Lena blickte empor und sah oben ihren Bräutigam, den Jäger Marti, auf einem Felsvorsprung stehen. Da jubelte sie hellauf vor Freude und lief trotz der gefesselten Arme, die sie arg behinderten, den Steilhang hinauf, um nur schnell zu ihrem geliebten Retter zu gelangen.
Aber oweh - sie stolperte vor Eile, fiel nieder und stürzte mit einem Schreckensschrei in die grausige Tiefe!
Lange starrten die Zigeuner stumm vor sich hin. Endlich rafften sie sich auf, um traurig ihrer Truppe entgegenzugehen. Vorher aber begruben sie noch unter schwermütigen Gesängen ihren jungen Mitbruder am Fuße des haushohen Felsblockes.
Der Fels heißt seit jenem unglückseligen Würfelspiel im Volksmund der "Spielstein".

Quelle: Sagenschatz aus dem Salzkammergut, Iolanthe Hasslwander, Steyr 1981