Die Lindwurm-Sage

In dem so schön gelegenen Hochtal Hinterberg soll sich dereinst zu Füßen des Grimmingriesen ein stiller See ausgebreitet haben. Vereinzelte sumpfige Wiesen und da und dort moorige Strecken zwischen Mitterndorf und Tauplitz gelten noch heutzutage als Beweis für den früheren Bestand eines ausgedehnten Sees.
Damals, in jenen fernen Jahrhunderten, hauste hoch oben über dem Kulm in einer niedrigen Waldhütte eine verwitterte Hexe, die von den meisten Menschen gemieden wurde. So lebte sie nur in Gesellschaft ihrer gescheckten Katze und eines kohlschwarzen Hahnes zurückgezogen von der übrigen Welt. Selten bekam einer die Alte zu sehen! Bloß ab und zu stieß ein Jäger auf sie, wenn sie eben Beeren und Schwämme suchte oder Kräuter für ihre Zaubertränke sammelte; denn dafür fanden sich in verschwiegener Nachtstunde immer wieder Käufer bei ihr ein.
Eines Tages trug es sich nun zu, daß der schwarze Hahn ein arges Geschrei und Geflatter begann und vor den Augen der Hexe, die eiligst herbeigehumpelt war, ein großmächtiges Ei legte.
Als die Alte das sah, lachte sie schadenfroh vor sich hin, nahm das Ei sorgsam in ihre Hütte mit und betreute es beim Herdfeuer wie einen kostbaren Schatz sieben Wochen lang.
Nach dieser Zeit trug sie es im frühen Morgendämmern an einem Freitag vor ihre Hüttentür und wartete mit funkelnden Augen das Weitere ab. Und denk dir nur: Als die ersten Sonnenstrahlen auf das Ei fielen, erglühte es in rosenfarbigem Schein; dann krachte und splitterte es auseinander - und heraus kroch ein kleiner Lindwurm! Der dehnte und reckte seine Glieder, schaute ein wenig um sich und wälzte sich dann langsam und träge zum See hinunter.
Die Hexe blickte ihm nach, so lange sie ihn sehen konnte, und rieb sich mit häßlichem Grinsen zufrieden die Hände. Jetzt würden es die Menschen im weiten Umkreis zu büßen haben, daß gar viele von ihnen ihr nachgeschimpft und Steine auf sie geworfen hatten! Zur rechten Zeit, fand sie, wurde das Hahnenei gelegt; der Lindwurm würde sie nun rächen - und das war nur gut so!
Und richtig: der kleine Lindwurm begann sogleich sein unheilvolles Werk, indem er alles verschlang, was er im See aufstöbern konnte. Sämtliche Tiere und Wasserpflanzen fielen seinem Heißhunger zum Opfer; und als er jegliches Leben im See ausgetilgt hatte, fraß er sogar den Schlamm, um sich zu mästen. In kurzer Zeit war er zu einer erstaunlichen Größe herangewachsen und bildete den Schrecken der ganzen Gegend. Schließlich fand das Untier im See nichts mehr, was ihm hätte zur Nahrung dienen können; so wühlte es sich voll Gier durch den Damm, der die umliegenden Siedlungen vor den Wassern des Sees beschützte. Da stürzte der Damm ein, die hochgehenden Fluten suchten sich mit Getöse einen neuen Weg und rissen Wald, Wiesen und Gehöfte mit sich. Aber auch der gefräßige Lindwurm wurde von dem mächtigen Wasserschwall erfaßt und ins Ennstal geschwemmt, wo er endlich elend ums Leben kam. Als der Schuppenpanzer und das Fleisch von ihm abgefallen waren, da hatte sein nacktes Knochengerüst allein noch so eine Größe, daß darunter zwölf Rinder bequem Platz fanden.
Seit jener fernen Zeit gibt es am Kulm auch keinen Bergbau mehr. Denn als damals der Lindwurm den See zerstörte, stürzten Schächte und Stollen ein und die Gold- und Silberschätze wurden für immer verschüttet.
Wenn aber auch dieses reiche Bergwerk längst in Vergessenheit geriet, so hat der Kulm in unseren Tagen doch wieder große Berühmtheit erlangt. Denn 1948 wurde dort eine Flugschanze erbaut, die seitdem alljährlich viele kühne "Schiflieger" des In- und Auslandes und zahlreiche Zuschauer herbeilockt. Diese Kulmschanze mit ihrer wunderschönen Lage, bewacht vom Grimming, ist heutzutage weltbekannt!
Aber wohl keiner von den vieltausend Besuchern denkt noch zurück an jene versunkenen Zeiten, als hier im Seegewässer zwischen Mitterndorf und Tauplitz der grausige Lindwurm hauste.

Quelle: Sagenschatz aus dem Salzkammergut, Iolanthe Hasslwander, Steyr 1981