DAS KÜMMERNISBILD IN DER MARTINSKIRCHE

Als die Martinskirche zu Linz, die älteste heute noch als Gotteshaus dienende Andachtsstätte Österreichs, wieder instand gesetzt wurde, kam an der Innenwand links vom Eingang ein wohlerhaltenes Freskobild der Kümmernislegende zum Vorschein. Es gehört zu den ersten Darstellungen dieser aus dem Niederrhein zu uns gelangten frommen Sage und weist alle wesentlichen Züge des Volto-Santo-Kultes auf.

Eine Königstochter aus Holland, gleich ausgezeichnet durch Schönheit wie Weisheit, wurde im 2. Jahrhundert nach Christi Geburt im christlichen Glauben erzogen und gelobte ewige Jungfrauschaft. Der Vater, ein Heide, bestimmte sie aber einem Nachbarkönig zur Gemahlin. In ihrer Gewissensbedrängnis bat das Mädchen, Gott möge ihr Antlitz entstellen. Richtig, über Nacht wuchs ihr ein mächtiger Bart! Der ergrimmte Vater ließ die seine Pläne durchkreuzende Tochter erst im Kerker schmachten und schließlich lebendig ans Kreuz schlagen, damit sie ja ihrem so geliebten Bräutigam Christus gleiche.

Während sie solche Todesmarter ergeben duldete, kam ein armer Spielmann am Kreuze vorbei. Aus tiefem Mitleid und Erbarmen kniete er davor nieder, und weil er nichts anderes zu geben hatte, so spielte er der Gekreuzigten auf seiner Geige ein paar Stücklein vor. Gestärkt und getröstet durch diesen Beweis einfältiger, aber echter Anteilnahme, warf ihm die Märtyrin ihren rechten goldenen Schuh zu und verschied. Als aber der Spielmann diesen Schuh einem Goldschmiede zum Kaufe anbot, nahm man ihn als Dieb fest und machte ihm den Prozeß. Vergebens beteuerte und beschwor der Geiger seine Unschuld, man glaubte ihm nicht und verurteilte ihn kurzerhand zum Tode. Als letzte Gunst erbat er sich die Erlaubnis, noch einmal vor der Gekreuzigten spielen zu dürfen. Und siehe! Als er geendet hatte, glitt ihm vom Fuße der Toten der zweite Schuh in den Schoß. Auf wunderbare Weise war damit die Unschuld des Spielmannes bezeugt.


Quelle: Hula Franz, Die Totenleuchten und Bildstöcke Österreichs. Wien, 1948, S. 46.
Klier Karl Magnus, Volkstümliche Musikinstrumente in den Alpen. Kassel, 1956.

aus: Hans Commenda, Sagen in und um Linz, in: Oberösterreichische Heimatblätter, Jahrgang 21, 1967, Heft 3/4, S. 27 - 74.