ZIMNITZ

Vor vielen Jahren, da noch gute Kobolde in den Wäldern und Bergen hausten, lebte ein armer Köhler mit seinem kranken Weib und seiner Tochter Gertrud, einem schönen Kind von 18 Jahren, im Örtchen Kreuten bei Ischl. Das Mädchen kannte nur einen Gedanken, das Lebenspflänzchen zu finden, das die Mutter wieder gesund machen sollte. An einem schönen Johannistag wagte sie sich in die dichten Wälder der Zimnitz, suchte lange vergeblich und schlief schließlich unter einer Tanne ein. Plötzlich wurde sie durch ein helles Leuchten geweckt. Vor ihr stand ein Greis mit gütigem Gesicht, das von weißem Barte umrahmt war. Seine grünen Kleider waren durch einen goldenen Gürtel zusammengehalten, goldene Krone und goldenes Szepter schmückten ihn. Er hieß mit freundlichen Worten das Mädchen folgen, führte es zu einer Felswand, beschrieb dort Zauberkreise mit einem Szepter, murmelte Zauberworte und vor den staunenden Augen des Mädchens klaffte der Fels und gab den Weg frei in eine wundersame Grotte, schimmernd von Kristall, auf deren Boden tausende goldsterngeschmückter Gläser standen, worin verschiedene Pflanzen blühten. "Seit 100 Jahren ist niemand mehr in mein Reich gekommen", sagte der Alte, du aber bist gut und fromm, darum habe ich dich hereingeführt!" Endlich gab er dem Mädchen viele herrliche Früchte zu kosten. Dann brachte er Gertrud zwei Gläser. In dem einen war eine frische Pflanze mit grünen Blättern und schwellenden Knospen, in dem andern ein Kummerpflänzchen mit dem Wurm an der Wurzel. "Die eine bedeutet die Blume deines Lebens, die andere jene deiner kranken Mutter", fuhr der Greis fort. "Deine Mutter muß bald sterben, wenn die beiden Pflanzen nicht ausgetauscht werden. Aber bedenke wohl, jedes Blatt, das der Pflanze deiner Mutter zuwächst, welkt deiner Lebenspflanze ab!" "Ich opfere gern mein Leben, wenn nur meine Mutter gesundet", entschied die brave Tochter und dankte mit Tränen,in Augen dem Helfer, dann schlief sie ein und fand sich am Morgen unter der Fichte wieder. Zuerst glaubte sie, geträumt zu haben, aber die seltsame Pflanze in ihrem Schoße belehrte sie eines Bessern. Sofort eilte sie heim, machte der Mutter aus der Wunderpflanze einen Tee, an dem die Kranke rasch gesundete. Dafür siechte Gertrud sichtlich hin. Aber eines Tages trat lichtumflossen der Geist der Zimnitz in die Köhlerhütte ans Bett der Sterben, den und reichte ihr eine Frucht. "Du hast dein Leben für die Mutter geopfert", sagte er gütig, "nimm diese Frucht und iß sie". Damit war er verschwunden. Das Mädchen tat, wie ihm geheißen, und ward gesund.


Nach Auguste Marguillier, "A travers le Salzkammergut", 1896 in:
Hans Commenda, Zur Volkskunde des Salzkammergutes vor fünfzig Jahren, in: Volkskundliches aus Österreich und Südtirol, Hermann Wopfner zum 70. Geburtstag dargebracht, Hg von Anton Dörrer und Leopold Schmidt, Wien 1947.