DER WASSERMANN IM BURGBRUNNEN ZU KREUZENSTEIN

Einst lebte im tiefen Brunnen der Ruine Kreuzenstein ein kleiner, frecher Wassermann. Nur selten zeigte er sich im Burghof. Dieses kleine Wesen war überaus hässlich, hatte lange, bemooste Haare, ein breites Froschmaul mit spitzen Zähnen und roch modrig. Er liebte nichts mehr, als alle Leute rund um den Brunnen, gleichgültig ob Groß oder Klein zu necken. So spritzte er mit Wasser oder lockte Kinder mit glitzernden Perlen und schillernden Muscheln.

Schwurhände von Harmannsdorf © Harald Hartmann

Brunnen im Innenhof der Burg Kreuzenstein
© Harald Hartmann, Juli 2008 mit freundlicher Genehmigung der Burgverwaltung


Hatte er einmal Glück und beugte sich jemand zu weit über den Brunnenrand, so konnte es passieren, dass er mit seiner starken Hand blitzschnell Zugriff und das arme Opfer zu sich in die Tiefe in sein unterirdisches Reich zog.

Eines Tages holte ein junges Mädchen Wasser. Voll Erstaunen stellte es fest, dass das Wasser besonders hoch stand. So musste es sich nicht weit vorbeugen und konnte die beiden Eimer rasch füllen, um sie seiner Mutter zu bringen. Als sie das Wasser schon geschöpft hatte, bemerkte das Mädchen an der Wasseroberfläche ein schillerndes Band. Neugierig griff es danach und sah sich schon im Besitz des Kleinods. Plötzlich fuhr eine hässliche, grüne Hand aus dem Wasser in die Höhe und riss das Mädchen in die Tiefe. »Um Gottes Willen, wo bin ich gelandet?», rief es, als es am Grunde des Brunnens angekommen war. Dort befand sich der gläserne Palast des Wassermannes, der nun dem Mädchen nichts mehr anhaben konnte. Denn wer das Wort »Gott« ausspricht, ist vor den Taten der Wassermänner gefeit.

Ein ganzes Jahr lang sollte die Maid beim Wassermann in Diensten stehen. Sie führte seinen Haushalt, so gründlich und gewissenhaft, wie sie es von zu Hause gewohnt war. Bevor die Jahresfrist um war, sagte er eines Tages zu ihr: »Als Lohn kannst du dir den Kehricht mitnehmen!« Das Mädchen tat, wie ihm befohlen wurde, und kehrte von nun an jeden Tag den Kehricht in ein Eck. Als die Stunde der Befreiung gekommen war, kehrte es den Mist in seine Schürze und verließ Schlag zwölf Uhr Mittag das unterirdische Reich. Überglücklich kehrte das Mädchen zu seiner Mutter nach Hause zurück, die ein ganzes Jahr lang um ihre Tochter geweint hatte. Jetzt erst merkte das Kind, wie schwer seine Schürze geworden war. Als es den Knoten löste, glaubte es seinen Augen nicht zu trauen: Der Mist darin war zu purem Gold geworden.

Quelle: Das Weinviertel in seinen Sagen, Thomas Hofmann, Weitra 2000, S. 133