Die Völkerwand in der Sage

Die Völkerwand aus dem Sandlberge, im Volke eigentlich Folkawand genannt (die richtige Bezeichnung ist daher wohl Falkenwand), sieht wie ein zerfallenes Schloß aus. Es soll hier auch dereinst eine schöne Ritterburg gestanden sein. Ihre Bewohner begingen aber arge Freveltaten und zur Strafe dafür versank eines Tages das Schloß mit samt den Bewohnern und allen ihren Schätzen. Die Seelen derselben sollten erst erlöst werden, wenn einmal ein Mensch sieben Jahre in den weiten Räumen unter der Völkerwand zugebracht hätte.

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Nach anderer Überlieferung wurden die hier tief in den Klüften verborgenen Schätze in lang vergangenen Tagen herausgebracht, damit sie nicht den damals das Donautal bedrängenden Feinden in die Hände sielen. Nun ist aber der ganze Schatz verhext und nur der kann in seinen Besitz gelangen, welcher beim Schatzgraben kein Wort spricht. Bei jedem gesprochenen Worte fällt er noch um acht Klafter tiefer in das Innere des Berges hinein. Natürlich suchte man darnach zu graben, wie die Spuren zeigen. Einmal begannen damit zwei Steinbrecher, sie hatten noch nicht lange gearbeitet, als sie schon das Redeverbal brachen. Da tröstete einer den anderen mit den Worten: "Wer weiß, wie viele schon nach dem Schatze gesucht und [wie] viel sie dabei geredet haben".

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Einmal im Jahre, nämlich am Palmsonntag, ist wohl Gelegenheit, ihn zu heben. Da öffnet sich der Fels. Ein armes Weib wagte sich wirklich einst mit seinem dreijährigen Buberl in den Berg hinein und kam in ein Kellergewölbe, das von dem Funkeln der Edelsteine taghell erleuchtet war. Große Bottiche mit Gold, Silber und Kupfer standen darin. Rasch griff die Frau mehrmals in den Silberhaufen. Beim Zusammenraffen vergaß sie ganz das Knäblein, eilte flugs wieder aus dem Berge und die Felsen schlugen hinter ihr donnernd zusammen. Das Weid war nun voll Jammer über ihr Kind und ging fortwährend zur Völkerwand. Nach 7 Jahren endlich öffnete sie sich wieder. Sofort stürzt sich die besorgte Mutter hinein und fand ihren Knaben wohl erhalten und prächtig gediehen. Er hielt sogar einen Beutel voll Gold in der Hand. Rasch eilten beide heim. Die Frau drehte sich dabei einmal voll Neugierde um. Dabei sah sie gerade die erlösten Seelen der versunkenen Ritterburgbewohner in einer Wolke gegen den Himmel schweben. Da sie sich nicht hatte umschauen sollen, wurde das Gold im Beutel in wertlose Kiesel verwandelt. Die Frau war trotzdem voll Glück, weil sie ihr Kind wieder hatte.

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Die Völkerwand galt den alten Dürnsteinern auch als Heimstätte eines guten Geistes, des Feeweibls, das niemand behelligte. Es begegnete gewöhnlich frühmorgens den Leuten welche im Walde übernachteten, um ja recht zeitlich wieder mit der Arbeit beginnen zu können. So trafen das Feenweibl einst zwei Dürnsteiner. Sie hatten bis spät hinein Laubstreu gesammelt und sich bei Einbruch der Finsternis tief in den Laubhaufen vergraben, um zu schlafen. Gegen Mitternacht erwachten beide, da stand vor ihnen eine dunkle Gestalt, welche sie lachend anrief:

"Zwoa Köpf und koan Fuaß, a wunderbars Ding. Da muaß i glei hoam gehn und des meiner Guckahndl dazöln."

Mit diesen Worten verschwand die Erscheinung, seit etwa 70 Jahren hat sich das Völkerwand-Weibchen gar nimmer gezeigt. Es galt als die Hüterin der hier verborgenen Schätze, ging aber trotzdem ab und zu betteln, nur redete es dabei kein Wort. Gingen die Leute nach, so war die Alte auf einmal verschwunden.

Quelle: Sagen der Wachau, Hans Plöckinger, Krems a. D. 1926, Nr. 59, S. 68ff