Das verschwundene Madonnenbild

Der alte Menk-Reidler am Nordabhang des Hochkogels, der viele Sagen und Schrullen weiß, erzählte mir auch folgende Begebenheit: Es war vor vielen Jahren an einem Sonntag im Fasching. Am Vormittag dieses Tages sprach man im benachbarten Neuhofen allgemein in den Wirtshäusern: "Heute brennt es noch in Euratsfeld!" Am selben Abend war in Euratsfeld der übliche Feuerwehrball. Lustig ging es dabei zu. Plötzlich ertönte mitten im Festtrubel das Feuersignal. Das Moarhaus stand in Flammen und brannte lichterloh. Sogleich war die Feuerwehr helfend zur Stelle. Im Stockwerk des Hauses wohnte die frühere Besitzerin, die alte Deinhoferin. In ihrer bescheidenen Kammer befand sich ein schlichter Hausrat: Bett, Truhe und Kasten. Über dem Bett hing ein Muttergottesbild, zu dem die alte Frau gerne aufblickte. Während die mutigen Wehrmänner tapfer im Kampfe mit dem entfesselten Element standen, wurde u. a. auch das Marienbild der Deinhoferin in Sicherheit gebracht, doch wußte man nicht von wem. Es kam auch nicht wieder zum Vorschein. Der Eigentümer ließ das eingeäscherte Haus wieder aufbauen. Darinnen lebte die Familie des Wirtschaftsmeiers. Diese Meiersleute hörten während des abendlichen Gebetläutens immer ein Pochen an der Wand. Horchte man näher an dieser, klopfte es an der anderen Mauer, ging man dorthin, pochte es an der Stubendecke. Als der gottesfürchtige Meier über die Ursache des Klopfens nachdachte, kam ihm das verschwundene Marienbild in den Sinn.

Vielleicht war es dem Entwender durch jähen Tod nicht mehr möglich, es zurückzugeben? Das Klopfen wird dann von seiner ruhelosen Seele kommen. Da entschloß sich der Meier, mit seiner Familie für das Seelenheil jenes Unglücklichen eine Wallfahrt nach Mariazell zu machen. Nachdem die fromme Familie zu Fuß von Mariazell heimgekommen war, vernahm man kein Klopfen mehr im Hause. (Werner.)

Quelle: Sagen aus dem Mostviertel, gesammelt von der Lehrerarbeitsgemeinschaft des Bezirkes Amstetten, Hrsg. Ferdinand Adl, Amstetten 1952, S. 13
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Norbert Steinwendner, Mai 2006.
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