Das Heidemännlein

Die Forstheide bei Amstetten war ehedem ein verrufenes Waldgebiet. Streunendes Raub- und Mordgesindel fand dort sicheren Unterschlupf, plagte die umwohnenden und durchreisenden Menschen und spottete der Gesetze. Kein Wunder, wenn die Leute die Heide bei Tages- und besonders bei Nachtzeit mieden.
Der alte Stiefelmüller, der vor 150 Jahren schon ein betagter Mann war, hatte als junger Bursche ein seltsames Erlebnis in der Heide. An einem Spätherbsttage fuhr er mit einem Wagen voller Mehlsäcke in den Markt Amstetten. Wie es schon sein wollte, brachte er das Mehl nicht so rasch an den Mann, wie er es sich wünschte. Der Nachmittag war zur Neige gegangen und der letzte Sack abgeladen. Nun trieb er heimwärts die Rösser zu schnellerer Gangart an, um noch vor Einbruch der Dunkelheit durch die Heide zu kommen. Aber die Herbstnebel waren eingefallen und nahmen mit ihren düsteren Schleiern das letzte Licht des scheidenden Tagesgestirnes. Als er zur Heide kam, war es bereits stockfinster. Der fromme Stiefelmüller betete um gute Heimkehr ein Vaterunser. Kaum hatte er geendet, da erstrahlte knapp vor den Pferden ein Licht. Sie bäumten sich auf, doch gleich darauf gingen sie wieder im ruhigen Schritt. Der erschrockene MülIer sah sein letztes Stündlein gekommen. Doch es geschah nichts. Im Scheine des tanzenden Lichtes sah er nun ein eisgraues Männlein, das ein spitzes Hütlein mit einer wippenden Feder auf dem Kopfe trug, eine Laterne in der Hand hielt und so mit flinken Beinchen dem Gefährt den Weg bis zur Heimstatt des Müllers wies. Vor dem Hoftore angekommen, sprang der MülIer vom Wagen. Das Männlein stand jetzt wartend vor den Pferden, so, als ob es etwas vom Müller erheischte. Der StiefelmülIer schritt auf das Männlein zu und sagte: "Vergelt's Gott, daß du mir geleuchtet hast!" - "Vergelt's Gott, daß du mich erlöst hast!" war die Antwort des Männleins. Dieses wuchs im selben Augenblick empor zur Gestalt eines stattlichen Burschen und zerfloß dann im Gebräu der Ybbsnebel. Lange konnte der Müller nicht einschlafen. Das Gesicht des Burschen ließ ihm keine Ruhe. Da stieg in seiner Erinnerung ein Jugendfreund auf; der war durch Verführung unter das Raubgesindel der Forstheide gekommen und dort verdorben. Nun hatte der Müller seine irrende und gepeinigte Seele erlöst. (Resch.)

Quelle: Sagen aus dem Mostviertel, gesammelt von der Lehrerarbeitsgemeinschaft des Bezirkes Amstetten, Hrsg. Ferdinand Adl, Amstetten 1952, S. 27
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Norbert Steinwendner, Mai 2006.
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