DER ROTE HAHN

War da ein wohlhabender Bauer, der jeden Samstag eine Fuhr Körndl zu Markte bringen konnte, wofür er gutes Geld heimbrachte. Einmal hatte er nun recht vorteilhaft verkauft, und voll Freude darüber guckte er und sein gutes Weibchen ein wenig tiefer in's Gläschen, so daß sie mit ihrem Fuhrwerke in die stockfinstere Nacht hineingerieten. Kein Wunder also, daß die Pferde vom rechten Weg abkamen und mit dem Bauer und der Bäuerin, die indes sorglos schliefen, mitten durch ein wogendes Ährenfeld fuhren, das knapp an einem tiefen Abhange lag. Der Wagen samt den Insassen wäre rettungslos in die Tiefe gestürzt, hätte sich nicht ein guter Geist des braven und ehrlichen Ehepaares erbarmt. Wie nämlich das -Gespann knapp am Rande anlangte, da flog aus den Ähren ein roter Hahn geräuschvoll empor und schrie so laut: Kikeriki, daß es dem Bauer durch die Ohren gellte. Er wachte auf, erkannte sogleich die Gefahr, und zog mit den Zügeln die sidi aufbäumenden Rosse vom Abgrund zurück. Das haben nun dann die anderen Leute erfahren, und heute sagt man noch im Marchfelde scherzweise: Du, trink nicht zu viel! - Wer weiß, wacht noch der rote Hahn!


Quelle: Schukowitz, Mythen und Sagen des Marchfeldes: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 2, 1896, 278
Aus: Will-Erich Peuckert, Ostalpensagen, Berlin 1963, Nr. 15, Seite 17