Der Wurzenander

Viele Jahre hindurch kam zur Sommerzeit ins Lesachtal ein aller Mann von höchst sonderbarem Aussehen; die Kleidung war sehr vernachlässigt, ein spitzer Hut deckte die große Glatze, am Rücken hing ein Sack aus grobem Linnen. Die Rechte führte einen astigen Stock, der oben gekrümmt und mit Metall beschlagen war. Auf der Nase trug der Mann eine schwarze Brille und das Kinn war von einem weißen struppigen Bart umrahmt. Ein kleiner, schwarzer Spitzhund gab ihm das Geleite.

Name und Herkunft des sonderbaren Fremdlings blieben unbekannt, den Leuten gegenüber gab er sich als Wurzel- und Kräutersammler aus. Weil es Volksbrauch ist, jedem Fremden einen Namen beizulegen, so nannte man ihn allgemein den Wurzenander. Die Jugend hatte eine heilige Scheu vor ihm, und es genügte die Nennung seines Namens, um die unfolgsamen Kinder zum Gehorsam zu bekehren. Beim Gruberbauer hatte der Wurzen-ander sein ständiges Quartier, das er auf der Hin- und Herreise bezog. So kam und ging der Kräutersammler jahraus, jahrein. Mißtrauisch betrachteten ihn die Leute, ließen ihn jedoch ungehindert seiner Wege gehen. Aber der Gruberbäuerin Neugierde wuchs von Tag zu Tag und erreichte endlich einen solchen Grad, daß sie ihren Mann veranlaßte, dem Wurzenander heimlich nachzuspüren, was der Bauer eines Tages wirklich tat. Er verfolgte ihn bis ins Tuffbad und weiter in das Hintertal, wo er ihn unter einem Felsen haltmachen sah. Jetzt versuchte er, geräuschlos näher zu kommen, allein der wachsame Spitz hatte ihn bereits gewittert und schlug Lärm. Im selben Augenblicke war der Bauer an der Seite des Wurzenander, der erschrocken aufgesprungen war. Dabei sah jener, wie der angebliche Kräutersammler aus der Quelle, die aus einer Felsenhöhle hervorsprudelte, Goldkörner fischte. Groß war das Erstaunen des Gruberbauers, noch größer der Ärger des Wurzenander. Mit zornigen Blicken maß er den unwillkommenen Störenfried, und es hätte wohl eine Kraftprobe abgesetzt, wenn ihm nicht die markige Gestalt des Bauers Furcht eingeflößt hätte. Und so versuchte er denn auf gütlichem Wege einen Vergleich zustande zu bringen, indem er dem Bauer reichliche Belohnung in Aussicht stellte, wenn er zu schweigen verspreche. Im andern Falle, drohte er, werde er sich zu rächen wissen. Der Bauer gab sich damit zufrieden und erzählte zu Hause auf die dringenden Fragen seiner Frau, nichts Besonderes wahrgenommen zu haben.

Der Wurzenander verließ die Gegend, und der Bauer schwieg. Bald aber trieb ihn die Sucht nach dem kostbaren Metalle wieder zur Stelle seiner Entdeckung, allein das „Goldbrünnl" - so heißt der Ort bis zum heutigen Tage - war nicht mehr zu finden.

Allgemein fiel es auf, wie oft und schwer das Unglück diesen Sommer das Haus des Gruberbauers heimsuchte; bald lag jemand im Hause krank, bald fehlte es auf der Alm beim Vieh. Offenbar wurde die Geschichte durch die bekannte Schweigsamkeit der Frauen.

Die Gruberbäuerin merkte alsbald, daß ihr Mann öfter abwesend war und darüber keine rechte Auskunft geben wollte. Zudem stieß sie in einem Schranke auf eine beträchtliche Summe klingender Münzen. Bestürzt eilte sie zum Bauer und teilte ihm den Fund mit. Er schien sich darüber zwar zu verwundern, erweckte aber Argwohn durch sein beharrliches Schweigen, das er den stürmischen Fragen seiner Frau entgegensetzte. Der Hausfriede war gestört, denn die Bäuerin erklärte, bevor sie nicht wisse, woher das Geld sei, keinen Streich mehr zu arbeiten; sie dulde kein unrecht Gut im Hause. So gab er den endlich nach und rückte mit der Wahrheit heraus, das Weib war versöhnt, und alles schien in Ordnung.

Der Sommer war vorüber und das Almvieh in die Winterstallungen zurückgekehrt. Allein der Gruberbauer konnte nicht recht zur Ruhe kommen, die Drohung des Goldgräbers gab ihm viel zu denken. Ganz niedergeschlagen kam er eines Morgens aus dem Stalle, sein bestes Pferd lag tot vor der Krippe. Drei Wochen später trug man seinen ältesten Sohn zu Grabe, und unaufgeklärt blieb die Todesursache des starken, gesunden Jünglings.

Wohl hatte der Bauer sein Weib beschworen, um Gottes willen die Begebenheit mit dem Wurzenander nicht weiter zu erzählen. Aber ein Schloß an den Mund legen konnte er ihr nicht, und so kam's, wie es zu kommen pflegt. Die Gruberbäuerin weihte ihre Nachbarin in das Geheimnis ein und richtig - kurze Zeit darauf war es das Tagesgespräch im ganzen Tale. Als der Schnee vergangen war, sah das Hintertal beim Goldbrünnl viele Besucher, die dort ihr Glück zu finden hofften, freilich vergebens. Ein glühend heißer Sommertag war zur Rüste gegangen, sinnend kehrte der Gruberbauer mit den Seinen vom Felde heim. Der Wurzenander mit seiner Drohung ging ihm nicht aus dem Sinn. Seine Sorge wurde noch dadurch gesteigert, daß der Kräutersammler sich Heuer noch nicht hatte sehen lassen, während er andere Jahre schon Mitte Juli erschienen war.

Alles war bereits zur Ruhe gegangen, voll und hell zog der gute Mond seine Bahn, doch sollte er heute Zeuge eines schrecklichen Unglücks werden. Ein Weidmann, der oben am Berge wohnte und eben von einem Jagdgange heimgekehrt war, sah mit seinem scharfen Auge zuerst das Feuer. In wilden Sätzen sprang er abwärts und schrie, so laut er konnte: „Feuer, Feuer! Es brennt beim Gruberbauern!"

Spät erst hatten die Hausleute den Brand bemerkt, der bei der Dürre und Trockenheit so rasch um sich griff, daß man froh sein mußte, das nackte Leben in Sicherheit zu bringen. Der anbrechende Morgen sah das stattliche Anwesen in Schutt und Asche. Weinend und klagend drängten sich die Kinder um den Gruberbauer, der sein Heim verloren hatte. Tief ergriffen sprach er zu seinem Weibe:

„Schweigen ist Geld,
Reden ist g'fehlt!"

Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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