Das versunkene Schloß

In dem St. Martins-Walde bei Villach stand einst ein großes Schloß, in welchem eine wunderschöne Prinzessin lebte. Auf einem nahen Schlosse hauste ein Prinz, der die schöne Königstochter leidenschaftlich liebte. Aber als er eines Tages um sie warb, wurde er von ihrem Vater höhnisch abgewiesen. Nun begab er sich zu seiner Großmutter, die im Walde wohnte und eine mächtige Zauberin war. Diese verwandelte die Prinzessin in eine große, weiße Schlange, welche so lange das Schloß hüten muß, bis einer kommt, der ihr den Schlüssel, welchen sie im Maule trägt, entreißt. Lange wagte niemand den kühnen Versuch, bis ein Ur-Urenkel des abgewiesenen Prinzen von der verzauberten Schönen hörte.

Er ging ins Schloß, wo die Schlange hauste, um ihr den Schlüssel zu entreißen; doch als sie ihn drohend anschnaubte, lief er aus Angst davon. Laut weinte die Schlange, denn sie wäre allzugerne von dem schönen Prinzen erlöst worden. Der Jüngling gelangte auf seiner Flucht im Tale zu einer Quelle, wo er sich zur Rast niederlegte und bald einschlief. Im Traum erschien ihm jetzt die Schlange als wunderschöne Frau und erregte in ihm holdes Verlangen. Sie eröffnete ihm, daß sie ihm ewig angehören werde, wenn er seine Angst überwinde und das Wagestück nochmals ausführe. Da erwachte er mit dem festen Vorsatz, die Jungfrau zu erlösen.

Am nächsten Tage ging er wieder in das Schloß, richtete jedoch auch jetzt nichts aus. Da das Wagnis nur dreimal unternommen werden darf, begab er sich am dritten Tage wieder zur Stelle und nahm sich vor, nicht eher zu weichen, bis er die Erlösung vollbracht. Wirklich entriß er der Schlange den Schlüssel; sie faßte diesen jedoch wieder und als er über sie herfiel, um mit ihr zu ringen, tötete sie ihn. Zugleich versank das Schloß und an der Stelle, wo es gestanden, erwuchs eine Linde. Später wurde dort ein Gasthaus gebaut, dessen Garten heute von ihren Zweigen beschattet wird. Wenn der Baum dereinst gefällt wird, werden einige Bretter auch zur Herstellung der Wiege dessen dienen, der vom Schicksale zur Erlösung der schönen Prinzessin berufen ist. Das Schloß aber wird wieder erstehen und in seine Räume wird das glückliche Paar einziehen.

Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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