Die Tränen der heiligen Radegund

Das Dörflein Radweg liegt auf luftiger Anhöhe und besitzt schon die vierte Kirche, welche mit ihrem schlanken Türmchen weit in der Runde sichtbar ist. Doch vor vielen Jahren stand an der Stelle des jetzigen Gotteshauses ein kleines Dorfkirchlein, der heiligen Radegund geweiht. An dessen Ostseite sprudelte eine lustige Quelle. Wegen der köstlichen Frische wurde dieses Wasser, das sich in eine Mulde ergoß, gemeiniglich „die Tränen der heiligen Radegund" genannt. Sämtliche Dorfbewohner holten dort ihr Trinkwasser, und wenn sich abends viele Frauen und Mädchen bei der Quelle einfanden, wurden die Dorfneuigkeiten beklatscht oder die Schwächen der Mitmenschen verspottet. Häufig erklang bei den Tränen der heiligen Radegund lautes Gelächter, noch öfter aber Zank und Streit. Da gab es im selben Dorfe zwei alte Weiber, die in grimmigem Hader lebten und einander spinnefeind waren. Kaum einmal trafen sie sich an der Quelle, ohne daß Streitworte hin und her flogen oder sie gar aneinander gerieten. Eines Tages entspann sich zwischen den zwei Feindinnen ein solches Handgemenge, daß sie, zum Knäuel geballt, in die Tränenlache fielen und darin ertranken, bevor Hilfe kam.

Die Freude über den Tod der beiden Dorfhexen war allgemein, aber am nächsten Tage waren die Tränen der heiligen Radegund verschwunden, was das ganze Dorf mit großer Traurigkeit erfüllte. Zur selben Zeit hütete im ausgedehnten Pfarrwalde ein schönes, sittsames Mädchen die Dorfherde. Eines Tages bemerkte sie, wie die Schafe einen Kreis bildeten und die Köpfe nach der Mitte wandten. Sie lief näher und gewahrte eine Quelle, die früher nicht vorhanden war. Als sie genauer hinsah, erblickte sie auf dem Wasserspiegel das Bild der heiligen Radegund genau so, wie es noch jetzt in der Kirche zu sehen ist. Nun erkannte man, daß die Quelle, welche bei der Kirche verschwunden war, unterhalb des Dorfes im Pfarrwalde wieder zutage trat.

Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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