Die Sage vom Ehrenreich

Es war zur Zeit der Kreuzzüge, als ein reicher und angesehener Bürger der Stadt St. Veit, Ehrenreich mit Namen, ergriffen vom allgemeinen Drange seiner Zeit, den Entschluß faßte, nach dem Heiligen Lande zu pilgern. Mit einem kleinen Gefolge, das aus seinem Kutscher und zwei Bedienten bestand, trat er die weite und beschwerliche Fahrt dahin an.

Lange waren sie schon gewandert, als sie zu einem Walde und einer hohen Mauer kamen, über deren Zinnen eine breite Straße führte. Liebliche Musik tönte ihnen hier aus dem Mauergeschosse entgegen, daß sie ganz bezaubert ihrer Fahrt vergaßen und stehenblieben. Ehrenreich hieß seinen Bedienten auf die Zinne steigen, um zu sehen, was es sei. Aber kaum war dieser oben angelangt, so stieß er einen Freudenschrei aus und verschwand mit einem Sprunge hinter der Mauer. Eine geraume Zeit verging und der Diener erschien nicht wieder. Da sandte Ehrenreich seinen zweiten Bedienten mit dem gleichen Auftrage ab. Auch dieser stürzte mit demselben Freudenausbruche, als er die Höhe der Zinne erklommen, in den inneren Raum hinunter, ohne je wiederzukehren. Ehrenreichs hatte sich schon Angst und Bangen bemächtigt, aber noch wollte er einen letzten Versuch unternehmen, um hinter das Geheimnis jenes Zaubers zu kommen. Der einzige noch übrig gebliebene Diener, sein Kutscher, mußte jetzt ans Werk. Wiewohl er ihm die höchste Vorsicht empfohlen hatte, sah er ihn doch bald von demselben Entzücken erfaßt hinter der Mauer verschwinden. Da zog er denn jetzt verlassen und traurig den Weg durch den Wald weiter, bis er zu einem Hause kam, wo er Herberge suchte. Gerne wurde ihm diese gewährt. Wie er des Abends mit dem Wirte mancherlei Gespräches pflog, erkundigte sich dieser, woher er denn komme und welches das Ziel seiner Fahrt sei; auch er sei weit in der Welt herumgekommen und könne ihm vielleicht mit seiner Erfahrung dienen. Ehrenreich gab den Bescheid, er sei aus der Stadt St. Veit in Kärnten und wolle zum Grabe des Herrn. „Aus Kärnten", rief der Wirt ihm zu, den die Nachricht freudig überrascht hatte; „wie steht's, mein guter Freund, steht noch die Moizale am Moos, die Lena und der Urach am Berg?" (Es sind hier die drei alten Kirchen Maria-Saal, St. Helena und St. Ulrich auf den gleichnamigen Bergen gemeint.) „Ja, sie stehen noch", gab ganz kleinlaut der Fremde zur Antwort. Und der Wirt fuhr fort: ,Nicht ohne Grund frage ich, denn wisse, ich war der Baumeister dieser Kirchen."

Am anderen Tage setzte Ehrenreich seine Wanderung weiter fort. Da kam er in die Gegend des babylonischen Turmes. Er hatte erfahren, daß man diesen ohne Gefahr nur dann besuchen und seine zauberreichen Schätze sehen könne, wenn es gelinge, ihn Schlag elf Uhr zu betreten und noch vor Mitternacht zu verlassen; sonst falle man einer Riesenauke zum Opfer, welche einen mit ihren grimmen Krallen umklammere und töte. Ehrenreich faßte Mut, das gefahrvolle Unternehmen zu bestehen, und sprengte, mit einem Schwerte bewaffnet, auf seinem Rosse dem zaubervollen Turme zu.

Eben war es elf Uhr, als er sein Pferd durch das Tor spornte. Rechts und links sah sein Auge nichts als Blendwerk, gespenstige Ungetüme aller Arten lagen in zauberhaftem Schlafe befangen. Und dazwischen vernahm er wieder jene wundervolle Musik, welche ihm noch vom ersten Walde her im Ohre klang. Unberührt von dem Spuke war er bis ans Ende des Turmes gekommen und nicht mehr weit vom Tore, durch welches er ihn wieder verlassen sollte, da schlug die zwölfte Stunde, und in demselben Augenblicke löste sich der Bann, die schlafenden Gestalten erwachten und drangen an ihn heran. Mit der Geschwindigkeit des Blitzes schnellte eine Riesenauke an Ehrenreichs Pferd empor und hieb sich mit ihren Krallen in dessen Flanken ein. In dieser Gefahr griff Ehrenreich rasch nach seinem guten Schwerte, und während ein Hieb damit ihn von dem Ungeheuer befreite, brachte ihn ein kühner Satz seines Pferdes aus dem gefährlichen Bereiche. Draußen vor dem Tore erst gewahrte er, daß die Pfote, welche er der Kröte abgehauen, an der rechten Flanke des Pferdes hängen geblieben war.

Zur Erinnerung an dieses Erlebnis nahm Ehrenreich die Pfote in die Heimat mit, und seitdem führte sein Geschlecht eine „Pratze" im Wappen. Wer heutzutage die Klosterkirche zu St. Veit besichtigt, kann sie ob seinem Grabmale im Wappen sehen.

Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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