Der Ahornbaum am Millstättersee

Am Ufer des Millstättersees steht ein Baum, von dem folgende Sage geht:

Ein Mädchen, dessen Vater gestorben war, verliebte sich in einen Soldaten. Die Mutter wußte von diesem Verhältnis nichts; endlich merkte sie es und das Mädchen gestand alles. Erzürnt sprach die Mutter einen schrecklichen Fluch über ihre Tochter aus. „Ich wollte", sprach sie, „du wärest ein Ahornbaum und verdorrtest wie das Grün an seinen Ästen". Und siehe da! Plötzlich erstarrte das Mädchen, sein Leib wird zäh wie Ahorn, die Brust wird knorrig, die Haut zur Rinde, die Hände werden ästig und die Haare Laub. Darüber entsetzt sich die Mutter, die ihren Fluch so fürchterlich in Erfüllung gehen sieht.

Nach einiger Zeit hörte man einen Fiedler spielen, der saß unter dem Ahornbaum. Er spielte so kräftig, daß ihm der Bogen brach. Der Fiedler nahm sein Messer, um einen Zweig als Bogen zu schnitzen. Und wie er in den Baum schnitt, tropfte Blut heraus. Als er das Blut sah, fiel ihm das Messer aus der Hand. Er hob es auf und schnitt wieder. Da hörte er eine Stimme, die sprach: „Mein Blut ist versöhnt. Schneide dir einen Bogen und spiele mir mit ihm ein Grablied. Gehe dann vor's Bleicherhaus und siehst du dort meine Mutter, so geige ihr ein Stücklein und sage, daß der Bogen von ihrem Kinde ist." Der Geiger gehorchte und ging in das Dorf vors Bleicherhaus. Die Mutter stand gerade unter dem Tor. Da nahm, er seinen Bogen und spielte ein Lied. Noch nie hatte ein Bogen solche Töne hervorgebracht wie dieser. Als die Mutter das Spiel hörte, ward ihr Antlitz plötzlich blaß. Versöhnt und reuevoll rief sie aus: „Fürwahr, lieber ein gefallenes Kind als keines!"

Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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