Der Atlasschuh der Gräfin D.

Ein mystisches Geschehnis knüpft sich an die im Dorfe Lockenhaus zunächst des unteren Schlosses stehende Kirche, in deren Krypta die sterblichen Überreste des im Jahre 1671 im Wiener Rathaus wegen Rebellion justifizierten ungarischen Paladins, Grafen Thomas Nádasdy, sowie verschiedener Mitglieder der Familien Nádasdy und Draskovich ruhen.

Es ruhte hier in einem offenen Sarkophag in vollständig wohlerhaltenem Zustande, in ihren Prunkkleidern und reichem Schmuck beigesetzt, wie alle diese Magnaten, auch eine Gräfin D., die durch die Zierlichkeit ihrer Gestalt auffiel.

In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts nun lag in dem kaum zehn Kilometer entfernten Städtchen Güns ein kaiserliches Kavallerieregiment in Garnison. Als einmal, im Anschluß an ein Picknick, eine größere Gesellschaft die Krypta besichtigte, bei welcher Gelegenheit das Gespräch auf die zierlichen kleinen Füße der aufgebahrten Gräfin D. kam, wettete ein junger Offizier des Regimentes, ein Graf Sp., daß er einen dieser kleinen Atlasschuhe als Andenken mit sich nehmen werde. Es gelang ihm, die Aufmerksamkeit des arglosen Küsters zu täuschen und der Leiche den rechten Schuh vom Fuße zu ziehen, den er auf der Heimfahrt den übrigen zeigte.

Die Mitglieder der Gesellschaft waren von diesem frivolen Scherz unangenehm berührt, konnten den jungen Mann aber nicht dazu bewegen, den Schuh wieder zurückzutragen. Er nahm ihn in seine Wohnung und befestigte ihn über seinem Bette an der Wand. In der Nacht schreckte er plötzlich aus dem Schlafe auf. Er hatte den Eindruck gehabt, eine schlanke Frauengestalt beuge sich über sein Bett und nähme den Damenschuh von der Wand, wobei sie ihn mit der Hand im Gesicht streifte. Er fuhr auf, machte Licht - der Schuh war verschwunden. Sofort kleidete er sich an, stürzte in den Stall, ließ satteln und sprengte in Begleitung eines Kameraden in wildem Galopp über die Wiesen nach Lockenhaus. Dort wurde der Küster aus dem Schlafe gerüttelt und mußte die Krypta öffnen. Als das Kerzenlicht die Gestalt der Gräfin beleuchtete, steckte der fehlende Atlasschuh wieder an ihrem Fuße. Auf den jungen Offizier machte dies Erlebnis einen derartigen Eindruck, daß er sich dem Trunke ergab und sein Leben im Irrenhaus beendete.

In meinen Kinderjahren lebten noch Leute, die dieses Geschehnis miterlebt hatten. In der Folge wurde der Sarg der Gräfin D. in eine Wandnische eingemauert.


Quelle: Schloß Bernstein im Burgenland, W. Erwemweig, Bernstein 1927, S. 30f, zit. nach Sagen aus dem Burgenland, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1994, S. 94f.