6. [Ein Schimmelreiter holt seine Geliebte ab]

In Heil. Kreuz (Nied. Österr., [Heiligkreuz]) erzählt das Volk:

Ein Mädchen hatte einen Geliebten, der war Soldat und ist dann beim Heere gestorben. Jetzt hat sich das Mädchen gar so viel gesehnt nach ihm, und hat oft bitterlich geweint. Da kam einst in der Nacht ein Reiter auf einem schneeweißen Schimmel vor ihr Fenster geritten. Es war ihr Geliebter. Er klopfte an und sagte: "Anamirl steh auf, und geh mit mir!" Sie stand sogleich auf und gieng hinaus. Er befahl ihr, sich aufzusetzen. Sie that es, und beide ritten fort. Der Mond schien sehr hell. Als sie eine Weile geriten waren, fängt ihr Liebster auf einmal an:

Wie scheint der Mond so hell,
wie reiten die Toten so schnell;
Anamirl furchst dich nit?

Sie aber sprach: "Was soll ich mich denn fürchten, bist ja du bei mir!" Sie ritten wieder eine Weile, da begann er abermals:

Wie scheint der Mond so hell,
wie reiten die Toten so schnell;
Anamirl furchst dich nit?

Es erfolgte die selbe Antwort, und so zum dritten Male.

Während dem waren sie zum Hause des Schulmeisters gekommen, von dem der Freithof nicht weit weg war. Da kam ihr die Furcht ("der Scheuch"); und als sie vor's Schulmeisters "Schupfen" vorbei kamen, sprang sie schnell ab und eilte hinein in die Schupfen; denn ihre Angst war schon groß, und unter den "Dachtropfen" wuste sie sich sicher. Da rief ihr Geliebter ihr zu: "Dein Glück ist's, daß du herabgesprungen und da hinein bist, sonst hätte ich dich auf tausend Fetzen zerrissen. Ich wäre schon bald erlöst gewesen, und hab wieder so weit herkommen müssen!" Darauf warnte er sie noch, ja keinen Verstorbenen mehr zu sich zu verlangen, und verschwand.

1) Der ganze Sagenkreis ist behandelt von W. Wackernagel in den altd. Blättern von Haupt und Hoffmann (1835 S. 174 fg.) Vergl. auch Grimm Myth. 804 Anm.; in den K. und H. Märchen IIl. S. 75.
2) Simocks Edda 176.


Quelle: Mythen und Bräuche des Volkes in Österreich. Theodor Vernaleken, Wien 1859. S. 76f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Claudia Hackl, März 2005.