55. [Wilde Weiber stelen Kinder]

Die wilden Weiber (böhm. divéženi) in der Umgegend von Moldautein sind groß und Furcht einsflößend, das Gesicht ist mit Borsten bewachsenen Warzen bedeckt und der Mund breit. Das reckte Auge ist schwarz und liegt tiefer als das linke, welches blau ist. Die rothen Haare hängen ungekämmt bis zur Mitte des Körpers herab.

Die Wohnung der wilden Weiber ist eine unterirdische, vielfach verzweigte Höhle, welche nur durch eine Öhllampe matt erleuchtet wird und in die eine einzige Fallthüre führt, mit Mos und Steinen bedeckt und so verzaubert, daß kein Mensch dieselbe zu finden im Stande ist.

Die wilden Weiber sind böse Geister, welche den Menschen jeden nur möglichen Schaden verursachen; sie rauben den Hirten oft ein Stück Vieh von der Herde, die auf der Wiese weidet und steten Garben vom Felde oder Früchte von den Bäumen und schleppen hierauf die Beute in ihre Höhle. Das Getraide wird zermalmt und aus dem Mehle verstehen sie auch Brot zu backen. Der Ofen befindet sich unweit der Fallthüre. Ist es ihnen unmöglich diese Nahrungsmittel zu bekommen, so erjagen sie sich einiges Wild oder fangen Frösche.

Die wilden Weiber verstehen es, giftige Schlangen zahm und unschädlich zu machen; sie kennen überhaupt die geheimen Kräfte der Natur; so bereiten sie aus den verschiedenartigsten Kräutern und Wurzeln eine Salbe, mit der sie ihren Körper einschmieren, bevor sie aus der Höhle in's Freie stiegen, um so den Körper leichter zum Fluge zu machen. Flügel jedoch haben sie keine. Die wilden Weiber lieben Musik und Tanz, der von ihnen bei einem heftigen Sturme mit der ausgelassensten Wildheit in der Luft ausgeführt wird.

Auf Nahrungsraub gehen sie in der Nacht aus und wählen dazu meist finstere, stürmische Nachte. Die wilden Weiber sind unverheiratet; da sie aber doch Kinder haben wollen, so stelen sie diese den Menschen. Auf diese Weise pflanzen sie ihr Geschlecht fort.1) Um Kinder zu rauben, brauchen die wilden Weiber nicht Gewalt, sondern nur List. Bei ihren Raubzügen handhaben sie gewöhnlich lange, dicke Knotenstöcke, welche mit Schlangen umwunden werden, oder sie halten auch Wohl nur die Schlange allein in der Hand.

In mondhellen Nächten versammeln sich die wilden Weiber gern an den Ufern der Flüsse oder Teiche, und erfreuen sich da an der glatten von dem Monde beschienenen Wasserfläche und den vielen funkelnden Steinen. Die Weiber thuen dieses darum gerne, weil sie in ihrer Wohnung wenig Licht haben. Auch sitzen sie am Ufer und spinnen Flachs zu Hemden und Röcken.

Über einen Kinderraub der wilden Weiber erzählt man sich folgendes:

Es war einmal ein reicher Gutsbesitzer, welcher eine brave Frau und zwei Kinder hatte. Er bewohnte mit seiner Familie und Dienerschaft ein schönes Schloß, das jedoch in der Gegend ganz allein stund, denn es gab weit und breit in der Umgebung keine menschliche Wohnung. Seine Kinder, ein Mädchen und ein Knabe, waren klein und konnten noch nicht laufen. Es traf sich, daß Herr und Frau auf Besuch zu ihren Verwandten abreiseten. Die Kinder, ihre einzige Freude, übergaben sie der Obhut der Kindswärterin und befahlen auf die Kinder besonders Acht zu haben. Am zweiten Tage nach der Abreise der Herrschaft befand sich die Wärterin mit den zwei Kindern ganz allein im Schlosse; das übrige Gesinde war auf die Felder gegangen, da die gewöhnliche Schnittzeit war.

Am Nachmittage vernimmt die Wärterin eine liebliche Musik, welche vom Schloßhofe in's Zimmer tönte. Eine Weile horchte sie gespannt zu, aber lange dauerte dieß nicht, denn die Musik wurde immer zarter und angenehmer. Die Wärterin legte die Kinder auf den Tisch und lief hinaus. Als sie draußen war, öffnete sich ein Fenster und zwei wilde Weiber flogen in's Zimmer. Jede derselben packte ein Kind und flog wieder hinaus. So ward die Wärterin von den wilden Weibern überlistet; die Musik, welche sie draußen zu hören glaubte, war nur ein Lockmittel gewesen. Die Musik dauerte so lange, als die Weiber sich im Zimmer aufhielten; nachdem sie verschwunden, so verstummte auch die Musik. Die Wärterin kehrte verwundert in's Zimmer zurück, aber wie erschrack sie, als sie die Kinder nicht mehr auf dem Tische fand. Sie suchte und weinte jedoch vergebens. Das offene Fenster gab ihr endlich Aufschluß darüber, was mit den Kindern geschehen sein mochte.

Jetzt kam das Gesinde nach Hause, obgleich es noch nicht Zeit war, denn ein wüthender Sturm, welcher sich bald nach der Entfernung der wilden Weiber erhob, hatte sie vom Felde verjagt. Die Weiber hatten in der Luft ihre Tänze ausgeführt, weil sie darüber erfreut waren zwei hübsche Kinder zu besitzen.

Die Wärterin erzählte dem Gesinde was geschehen war, und alle überfiel ein Grausen, so daß einige theils aus Furcht vor den wilden Weibern, theils vor der Strafe, die ihr Herr über sie verhängen werde, das Schloß verließen.

In der Nacht, welche auf das traurige Ereignis folgte, verließ die Wärterin das Schloß und eilte über Berg und Thal fort. Sie kam in eine einsame Gegend, wo die Hütte eines Hirten stund. Hier glaubte die Wärterin vor der Verfolgung ihres Herrn gesichert zu sein. Sie hatte auch gehört, daß hier in der Nähe die wilden Weiber ihre Höhle hätten und hoffte nun, daß es ihr vielleicht gelingen könne die Kinder wieder zurück zu bekommen. Die Wärterin verdingte sich bei dem Hirten als Hüterin und wurde aus Mitleid aufgenommen.

Bei der Ankunft der Herrschaft waren von dem Gesinde nur wenige treue Diener zurückgeblieben. Diese erzählten das traurige Ereignis. Der Schmerz der Altern war so groß, daß sie nach kurzem Aufenthalte das Schloß verließen. Sie begaben sich auf Reisen, allein der Schmerz um ihre Kinder war so groß, daß zuerst die Mutter, dann auch der Vater starb.

Mitlerweile brachten die Kinder in der finstern Höhle zu. Hier wuchsen sie in Wildheit auf und erreichten so das siebente Lebensjahr.

Verließen die wilden Weiber ihre unterirdische Höhle, so blieb bei den Kindern ein altes, blindes Weib, die Mutter der wilden Weiber.

Da ereignete es sich zu der Zeit, in welcher die beiden Kinder sieben Jahre alt geworden, daß gerade an jenem Tage, an dem die wilden Weiber Brot buken, im Walde über ihrer Höhle eine große Treibjagd abgehalten wurde. Der Geruch des Brodes drang durch das Erdreich und die Jäger, dadurch aufmerksam gemacht, meldeten es ihrem Fürsten, welcher auf der Stelle nachgraben ließ. Dieß wurde jedoch nicht tief genug fortgesetzt und es blieb daher die Höhle unerforscht; indessen blieb vom graben ein Loch übrig, welches bis in die unterirdische Höhle drang und durch dasselbe fiel das Sonnenlicht ein in die Wohnung der wilden Weiber.

Bald nach diesem Vorfalle, der ihnen unbekannt geblieben war, flogen sie auf Raub aus. Die Kinder liefen ihrer blinden Hüterin fort und trieben sich in den unterirdischen Gängen herum. Als sie nun zu dem leuchtenden Loche kamen, glaubten sie eine Lampe vor sich zu sehen und griffen darnach. Ihre Finger drangen tief in das weiche Erdreich, denn die Nägel waren zu scharfen Krallen herangewachsen, und siehe da, ein Stück Erde fiel herab; die Kinder gruben wieder und so fort bis eine große Öffnung sich vor ihnen aufthat, durch welche sie in's Freie gelangten. Als sich die Kinder draußen befanden, dauerte es eine Weile, bis sie sich von ihrem Erstaunen erholten und rannten hierauf auf die benachbarte Wiese unter das Vieh, welches ihre ehemalige Wärterin dort hütete. Bei der Annäherung der zwei Kinder zerstreute sich scheu das Vieh und jagte davon. Die Hüterin gieng auf die Wildfänge los, um dieselben zu züchtigen; als sie jedoch näher kam, war es ihr leid die unglücklichen Geschöpfe zu schlagen und zu ihrer grösten Freude erkannte sie an dem Muttermahle ihre verlorenen Kinder. Die Hirtin eilt nun mit ihnen in die Hütte und am andern Tage begibt sie sich auf den Weg, der nach dem Schlosse führt, wo ihre frühere Herrschaft wohnte. Sie findet aber das Schloß unbewohnt und verödet. Die Hüterin sieht sich veranlasst im Schlosse zu übernachten.

Als unterdes die wilden Weiber vom mehrtägigen Raube zurückkehrten, fanden sie keine Kinder in der Höhle. Sie machten sich ungesäumt auf, dieselben aufzusuchen und fanden sie in dem Schlosse. Wüthend zerrissen sie die Wärterin in Stücke, nahmen die Kinder wieder mit sich, und seit der Zeit hat man nichts mehr von ihnen gehört noch gesehen.

1) Das vermuthet schon Grimm; s. Mythol. 437.

Quelle: Mythen und Bräuche des Volkes in Österreich. Theodor Vernaleken, Wien 1859. S. 248ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Claudia Hackl, April 2005.