Beleg 12 -16 [Vom Zauber der Christnacht]

12. In der Christnacht wird auf einem Kreuzweg ein Kreis aus geweihter Kreide oder aus geweihten Steinen gemacht. In die Mitte dieses Kreuzes setzt sich der losende auf ein Gebetbuch mit gekreuzten Füßen und eingezogenen Daumen. Schlag zwölf Uhr betritt er den Kreis, geht dreimal im Kreise herum, einmal rechts, dann links und zuletzt noch dreimal. Keine Gewalt darf ihn aus diesem Kreise bringen, denn verläßt er denselben vor ein Uhr, so ist es' um sein Leben geschehn.

Sehr groß aber sind die Anfechtungen, um ihn aus dem Kreise zu vertreiben: man gewart Hunde mit glühendrothen Augen, welche gegen den Kreis laufen, feurige Wagen, welche sehr nahe vorüberfahren, ein gräßliches ohrenzerreißendes Geschrei etc. Der Zweck des loßens ist, einen Blick in die Zukunft zu thun. Wie ein Nebelbild sieht der Loßer die Zukunft vor sich stehen, er kann jedoch die einzelnen Personen sehr leicht erkennen. Anders ist das loßen an Bächen:

Um zwölf Uhr stellt man sich mit dem Rücken gegen den Bach, eine geweihte Kerze vor sich haltend, und wartet auf das, was da kommen soll.

Dieses gibt dem loßenden nur über seine eigene Person Aufschlüsse, während das erstere ihm die Zukunft von allen bekannten Leuten vor Augen stellt. (Mank in Nied. Österr.)

13. Ein anderer abergläubischer Gebrauch, der aber jetzt nicht mehr üblich ist, wohl aber noch lebhaft in dem Gedächtnis der Landleute lebt, ist die Entzauberung jener Tannenbäume, deren Nadeln in der Christnacht gekreuzt sind. Di'e Insassin eines solchen Tannenbaumes ist immer eine sehr junge Dirne, welche auf ihre Schönheit zu stolz war und durch eine Hechse verzaubert wurde.

Jene Burschen, die eine von den Dirnen in der Gegend nicht als Braut heimführen wollen, suchen in der Christnacht solche Tannenbäume, und schlagen den Wipfel des Baumes ab. Dieser Wipfel muß während der drei Messen des nächsten Tages unter dem Altar verborgen werden, damit er entzaubert werde. An der Stelle des Tannenbäumchens findet man dann die entzauberte Dirne. (Daselbst.)

14. In der Christnacht ist an demselben Orte auch das Goldapfeln im Gebrauch. Es wird nämlich ein Apfel in Gottesnamen zur Erde geworfen und nach abbeten eines Vaterunsers mit dem linken Fuße rückwärts in den nächsten Bach geschleudert. Um 12 Uhr begibt man sich an jene Stelle, und sucht betend den Apfel. Ist man aber um ein Uhr noch nicht wieder unter den Dachtraufen seines Hauses, so kann man nie wieder trinkbares Wasser aus dem Bache schöpfen. Hat man den Apfel aber glücklich gefunden, so wird er mit Salz und Brot an einen verborgenen Ort gelegt, wo er dann am andern Morgen als ein goldener gefunden wird. Nach einigen Angaben verkleinert sich der Apfel und wird wie ein Nadelkopf. Trägt ein Mädchen diesen goldenen Apfel im Haar, so werden ihm alle Bursche geneigt. (Mank in Nieder-Österreich).

15. In der Christnacht begibt man sich auf einen Kreuzweg während der Mette, welche um 12 Uhr Nachts abgehalten wird. Im Mittelpunkte der sich kreuzenden Wege spricht man ein kurzes Gebet und wählt sich einen Weg. Während des gehens lauscht man aufmerksam, hält das Ohr öfters zur Erde, und achtet auf alle Gegenstände umher. So sieht und hört man verschiedenes, welches sich im nächsten Jahre zutragen wird. Hört man z. B. in der Erde trommeln, so bedeutet dieses Krieg; sieht man auf irgend einem Hause einen rothen Hahn, so zeigt dieser Feuer an; hört man in einem Hause ein Brett fallen, so bedeutet dieses, daß im nächsten Jahre in demselben Hause jemand sterben werde; jauchzen und jubeln deuten sie auf eine gute Ernte im nächsten Jahre u. s. w. Spricht aber jemand irgend ein Wort, so erhält er von unsichtbarer Hand eine derbe Ohrfeige und das geheimnisvolle sehen und hören ist vorbei. Dieses dauert aber nur so lange als der Priester das Evangelium liest.

Das nennen die Leute „losen gehen“. (Weitra in Nieder-Österreich.)

16. In Stadl-Enzersdorf im Marchfelde giengen einst zwei Männer in der Christnacht um die zwölfte Stunde losen; der eine hatte es schon öfter gethan, der andere hingegen gieng das erste mal. Diesen ermahnte der erstere, er möge sich ruhig verhalten, und weder sprechen noch aufblicken, er möge hören was es auch immer sei, sonst würde es ihm schlecht ergehen. Als sie nun auf einem Kreuzweg angelangt waren, legten sie eine Anzahl Steine im Kreise um sich herum (auch kann der Kreis mit geweihter Kreide gemacht werden) steckten in die Mitte desselben einen Stock von der Haselstaude, hängten an diese einen Rosenkranz und knieten dabei nieder.

Bald hörten sie etwas mit großem Lärm und Geprassel näher kommen; der Neuling rief erschreckt zu seinem Gefährten: „Hörst du nichts!“ und sah zugleich empor und sah einen ungeheuren feurigen Wagen, von zwei gleichfalls ganz feurigen Rossen gezogen, einherrollen. Voll Entsetzen sprang er aus dem schützenden Kreise heraus und ergriff die Flucht; aber das bekam ihm übel. Hinter ihm drein kam das höllische Fuhrwerk und verfolgte ihn mit ungeheurem Getöse. Er wäre verloren gewesen, hätten ihn nicht sein geweihter Rosenkranz und das Johannes-Evangelium gerettet, welches er in der Angst betete1).

So kam er noch mit heiler Haut davon, gelobte aber, nie mehr in seinem Leben losen zu gehen.

Sein kundigerer Gefährte aber ließ sich nicht schrecken, blieb ruhig in dem sicheren Kreise stehen und erfuhr auch ganz genau alle Todesfälle, Taufen und Hochzeiten u. s. w., welche das folgende Jahr in der Gemeinde stattfinden sollten.

1) Den Anfang des Johannis-Evangeliums habe ich auch in Westfalen von Frauen beten gehört, jedesmal wenn es stark donnerte.

Quelle: Mythen und Bräuche des Volkes in Österreich. Theodor Vernaleken, Wien 1859. S. 333ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Claudia Hackl, Juni 2005.