Die wilde Frau zu La Sauvage

Vor Errichtung des Hüttenwerkes zu La Sauvage, zu Ende des ersten Viertels des XVII. Jahrhunderts, war dieses romantische Tal unbewohnt und führte den Namen Val de la sauvage femme. Diesen Namen hatte es erhalten von einer wilden Frau, die ihre Wohnung in einer der Höhlungen des Felsens La Cronnière hatte. Nach der Überlieferung nährte sich die wilde Frau von rohem Fleische; ein dichtes Haupthaar, das sie umhüllte und bis zu den Füßen herabhing, diente ihr statt aller Kleidung. Ihre rot umränderten Augen, dicht an der Wurzel des Haupthaares, schienen glühende Kohlen zu sein. Aus ihrem über die Maßen breiten Munde ragten doppelte Zahnreihen hervor; ihre Stimme tönte wie unheimliches Eulengeschrei und ihre Finger waren mit scharfen Krallen bewaffnet, womit sie das im Laufe erjagte Wild oder die auf den Feldern erbeuteten Schafe zerriß.

Als die wilde Frau zum Sterben kam, soll sie in der Hölle keine Aufnahme gefunden haben, da man sie für das Weibchen eines wilden Tieres hielt. So war sie wieder zur Erde heraufzusteigen genötigt, zum Entsetzen der ganzen Umgegend, die sie nächtlich als schreckliches Gespenst durchstreifte, bis endlich ein frommer Einsiedler aus dem Walde Selomon den Geist der wilden Frau jenseits des Meeres bannte. Er tat es unter Anrufung des hl. Donatus und Unserer Lieben Frau zu Luxemburg, deren heilige Bilder zum Andenken an die wunderbare Befreiung in dem Felsen La Cronnière aufgestellt wurden.

Publications etc., VII, 42

Quelle: Nikolaus Gredt, Sagenschatz des Luxemburger Landes, Luxemburg 1883