DER UNGERECHTE RICHTER
Früher hatten die Triesner über dem Rhein auf der Schweizer
Seite viel Boden. Nun sollte der Strom eingedämmt werden, und ein
paar Männer von drüben kamen zum Triesner Richter (so nannte
man früher die Gemeindevorsteher) und schlugen ihm vor, ihnen den
Boden über dem Rhein zu überlassen, er bekäme dann von
ihnen ein Stück Grund in Triesen, das ihnen gehöre. Er war sofort
einverstanden.
Auf dem Grundstück, das er erhalten hatte, liess er einen Stall bauen,
der kein Glück brachte. Nach einigen Jahren starb er, und der Besitz
ging auf seine Tochter über. Eines Abends trieb diese ihr Vieh gesund
in den Stall, aber als sie ihn am ändern Morgen wieder betrat, sah
sie mit Entsetzen, wie alle Kühe dem Ersticken nahe waren. Sie liess
den Stall mehrmals segnen, aber alles half nichts. Das Vieh war am Morgen
von den Ketten los oder viel zu fest angebunden.
Die junge Bäuerin liess einen Kapuziner kommen. Diesem erschien der
Geist des Verstorbenen im Stall, und der Kapuziner versuchte, ihn ins
Lawenatobel zu bannen, doch als er dort ankam, war der Geist nicht mehr
bei ihm. Als er zum Stall zurückging, stand er vor der Türe.
Der Kapuziner fragte ihn: "Warum lässt du die Menschen und das
Vieh nicht in Ruhe?" Er gab zur Antwort: "Die Zeit meiner Erlösung
wäre nun da. Schenkt den Boden der Gemeinde oder verwendet ihn zu
guten Zwecken". Die Tochter war aber nicht einverstanden, denn sie
glaubte an das alles nicht.
Von jetzt an konnte man überhaupt kein Vieh mehr drin lassen, und
der Geisterstall, zwischen Triesen und Balzers gelegen, blieb unbesetzt.
Quelle: Sagen aus Liechtenstein, Otto Seger,
Nendeln/Liechtenstein, 1966/1980, Nr. 27