DER GEIST DER KLOSTERFRAU
In Triesenberg schaute einmal ein Bauer die Uhr falsch an, und statt um
vier Uhr ging er schon um zwei Uhr in der Nacht zum Füttern. Auf
dem Wege begegnete ihm eine unbekannte Klosterfrau. Er fragte sie: "Was
läufst du schon so früh herum?" und sie antwortete: "Ich
muss hier wandeln, denn ich hatte einmal Geld versteckt und konnte es
vor meinem Tode nicht mehr melden. Du kannst mir helfen, darfst dich aber
nicht fürchten. Stell dir vor, du stehst vor einem grossen Felsen,
und ich komme als Schlange und habe einen Schlüssel umgehängt.
Den musst du mir wegnehmen, dann bin ich erlöst. Du wirst auf dieser
Welt immer Glück haben, und auch der Himmel ist dir sicher".
Der Bauer versprach ihr, den Wunsch zu erfüllen.
Auf einmal vernahm er ein Rauschen und Tosen, als ob die Welt unterginge.
Plötzlich stand er vor einem grossen Felsen. Mit weitaufgesperrtem
Rachen kam wirklich eine Schlange auf ihn zu, die einen Schlüssel
umgehängt hatte. Als sie aber ganz nahe bei ihm war, fürchtete
er sich, wich aus und sprang auf die Seite.
Jetzt stand wieder die Klosterfrau vor ihm, weinte bitterlich und klagte:
"Viele Jahre kann es wieder gehen, bis jemand die Stunde trifft,
in der ich hier bin, und wer weiss, ob dieser dann den Mut hat, mich zu
erlösen".
Mit einem Seufzer verschwand die Klosterfrau.
Quelle: Sagen aus Liechtenstein, Otto Seger,
Nendeln/Liechtenstein, 1966/1980, Nr. 22