Die Fee von Gutenberg

In jener fabelhaften Zeit, da man dem Glück noch unversehens an jeder Waldecke begegnen konnte, schritt eines Morgens, als eben die Sonne aufging, ein Bauernbüblein an der stolzen Burg Gutenberg vorbei.

Da gewahrte es plötzlich in der Höhe dicht unter der Burgmauer einen seltsamen Glanz von fast überirdischer Kraft. Die Neugierde trieb das Büblein hastig den Hang hinauf, und es täuschte sich nicht: da lagen unzählige Schneckengehäuse, aber nicht von gewöhnlicher Art, sondern sie waren aus purem Gold und strahlten in der Morgensonne einen blendenden Glanz aus, daß man fast die Augen schließen mußte. Der Bub hatte den Schatz kaum wahrgenommen, da hörte er eine zart flehende Stimme, und als er aufschaute, noch geblendet vom Goldglanz, stand vor ihm eine zauberhaft schöne Frau in weißen, wallenden Gewändern mit seelenvollen Augen und blondem, langem Haar, daß den Bub vor so viel unfaßlicher Schönheit ein Bangen überfiel.

Aber die schöne Frau nahm ihm mit ihrer Stimme jede Angst, so daß er ihr ruhig in die Augen schauen konnte; denn sie sagte ihm nichts anderes, als daß er sein Glück machen könne, wenn er den Mut zu einer tapferen Tat in sich aufbringe. Sie sei nämlich niemand anders als eine verzauberte Prinzessin, die schon seit vielen hundert Jahren auf ihre Erlösung warte. Immer nach hundert Jahren, an einem bestimmten Tag, komme sie mit ihrem Schatz, den sie hüten müsse, auf die Erde.

"Ach", seufzte sie, "wenn du mich erlösen könntest, der ganze Goldschatz hier wäre dein!"

Da klopfte dem Buben vor Aufregung das Herz. Was konnte man mit diesem Golde nicht alles kaufen: ein Bauerngut mit vielen Kühen, mindestens ein Pferdegespann und eine Alp! Er versicherte der Fee hoch und heilig, er werde alles tun, was sie begehre, und er zappelte aufgeregt mit den Füßen vor Tatendrang.

Die Fee blickte ihn zärtlich und doch wehmütig an, und dann seufzte sie: "Es ist ein gefährliches Unterfangen, du mußt mich nämlich dreimal herumschwingen und darfst dabei kein Wort sagen und mich nie loslassen. Wenn es dir gelänge, wie glücklich wäre ich! Hundert Jahre, das ist so lang", klagte sie.

Der Bub spuckte nach alter Gewohnheit in die Hände und rief unternehmungslustig: "Das wäre noch, he!" Er nahm die schöne Frau in beide Arme, schloß grimmig den Mund, damit ihm nicht unversehens ein Wörtlein entschlüpfe, und zur Vorsicht schloß er auch noch die Augen. Dann nahm er tüchtig Atem und ho, hopp, schwang er die Fee kräftig herum. Da seufzte sie; denn einmal war es gelungen. Und wieder seufzte die Fee, aber diesmal spürte man Wonne und verhaltene Freude in ihrer Stimme; denn zum zweitenmal hatte der Bursche sie ohne Zaudern herumgeschwungen. Nun nahm er alle Kraft und allen Mut zusammen, noch ein letzter Schwung, dann war das Glück in seinen Händen - in seinen Händen. Aber Himmel, was war das? Er schrie auf, er hatte ja kalte Schlangen in seinen Händen. Er ließ die Fee vor Schrecken fahren und starrte entgeistert auf seine Hände, die aber leer waren. Er hatte sich nur getäuscht.

"Wie klagte und weinte jetzt die arme Prinzessin: "Nun muß ich wieder hundert Jahre auf Gutenberg den Schatz hüten, o weh!" Wie ein zartes Nebelschleierchen in der Morgenfrühe löste sie sich im Sonnenglanze auf. Der Schatz verschwand, und nur noch einige ganz gewöhnliche Schneckenhäuschen lagen im Grase. Der Bub stand benommen da, wie ein Schüler, der durch die Prüfung gefallen ist.

Er mochte lange herumsuchen und sich von den Dornen im Gestrüpp zerstechen lassen, die Fee war wie ein Traum verschwunden.

So blieb dem Buben zuletzt nichts anderes übrig, als wieder hinunterzugehen auf die Straße und weiterzuziehen ohne Geld für einen Bauernhof und die Kühe. Aber wer weiß, wenn er in hundert Jahren am bestimmten Tage wieder des Weges käme, wer weiß ? Auf jeden Fall wollte er diesen Tag in seinem Kalender dick unterstreichen.

Quelle: Dino Larese, Liechtensteiner Sagen, Basel 1970, S. 52