Der seltsame Mann von Balzers

Ist es nicht so, daß es fast in jedem Dorf absonderliche Leute gibt, die so seltsam durchs Leben gehen, als wären sie nicht von dieser Welt, geheimnisumwittert, oft verspottet von den Kindern, oft scheu gemieden?

Da lebte vor vielen Jahren, wie Lehrer Frick berichtet, in Balzers ein solch wunderlicher Mann, mit schielenden Augen, still, abseitig. Man nannte ihn den wilden Geißler. Wieso er diesen Namen trug, wußte niemand. Er wohnte in einer kleinen, ärmlichen Hütte und verdiente sich sein mageres Brot mit Holzhacken und Geißenhüten. Er mied die Leute. Wenn ihn jemand ansprach, ging nur ein scheues Lächeln über sein wurzeliges Gesicht, aber er blieb stumm und schob nur verlegen die Pfeife in den andern Mundwinkel. Versehen mit Stock, dem Hirtenhorn und der Pfeife, trieb er morgens die Geißen hinaus auf die Weide, zumeist auf den nahen Berg, die Mittagsspitze, und da brauchte er nicht viel zu reden; die Geißen verstanden ihn auch sonst und folgten ihm; freilich, und das war das Absonderliche, er mußte sie nun nicht wie irgendein anderer mit viel Mühe hüten. Er steckte nämlich nur seinen Stecken in die Erde und überließ dann die Geißen ihrem Schicksal, während er sich unter einen Baum legte und sorglos schlief oder, wie man munkelte, im alten Schlößle nach verborgenen Schätzen spürte. Die Geißen aber kamen abends sittsam von den Bergen herunter und sammelten sich getreulich bei seinem Stecken, als hätte er ihnen gerufen wie ein richtiger Hirte.

Ein Mann aus Balzers, der dort beim Schlößle Erbsenstickel schnitt, sah etwas gar Seltsames, was er später glaubwürdig und mit vielen Beteuerungen im Dorfe unten seinen Genossen erzählte. Da hatte nämlich der Geißler, als er sich unbeobachtet wähnte, den Stock in die Erde gestoßen, und es dauerte nicht lange, da kam aus dem nahen Gebüsch eine zierliche Schlange herausgekrochen, wand sich an dem Stocke hinauf, züngelte und schaute den Geißler aus klugen Augen an. Nun sprach er mit der Schlange, der schweigsame Geißler sprach. Der im Versteck horchende Mann aus Balzers konnte kein Wort verstehen; aber der Geißler redete längere Zeit mit der Schlange wie mit einem Menschen, und das Tier lauschte verständnisvoll seinen Worten. Dann verschwand sie, wie sie gekommen war, wieder ins Gebüsch, und auch der Geißler schlug sich in die Büsche. Seltsames Gebaren!

Da sagten sich die Leute von Balzers, der Geißler müsse mit dem Teufel im Bunde stehen. Man sah ihn auch niemals in der Kirche, und was ganz besonders auffällig war, er konnte seine Ziegen durch die Weinberge treiben, um eine Abkürzung zu benützen, und die naschhaften Geißen berührten kein Blatt. Aber eines Tages kehrte der wilde Geißler nicht mehr vom Schlößle zurück. Er blieb für alle Zeiten verschwunden.

Die Männer, die des Nachts von der Luziensteig nach Balzers oder Mels hinunterschritten, versicherten immer wieder, daß der wilde Geißler da oben als Spuk sein Unwesen treibe. Sie hörten nämlich jeweils vom Schlößle her den dumpfen Ruf: "Fulia, Fulia", und wenn sie der Stimme nachgingen, gerieten sie von ihrem Wege ab, irrten umher und fanden erst beim Morgengrauen, wenn das Aveläuten heraufdrang, wieder den richtigen Weg. Meistens standen sie dann, etwas benommen, in einem Dickicht ganz nahe bei den Mauern des alten Schlößle. Wenn ihnen dann jemand den Vorwurf machte, nicht der Geißler, sondern der Wein habe sie in die Irre geführt, schüttelten sie die Köpfe und schwiegen, und man mußte es ihnen glauben.

Quelle: Dino Larese, Liechtensteiner Sagen, Basel 1970, S. 31