SAGE VOM JAUFENTAL
Das heutige Jaufental war einst viel schöner als jetzt und so sanft aufsteigend, daß ein Weinfaß, das man im hintersten Grunde des Tales in Bewegung gesetzt hätte, bis an das äußerste Ende des Tales gerollt wäre, ohne zu zerbrechen.
Da kam aber einmal ein greuliches Wetter, und das ganze Tal wurde unter Wasser gesetzt. Nur die Kirche, die auf einer Anhöhe stand, war lange Zeit von der überschwemmung unberührt. Viele Leute hatten sich dahin geflüchtet und läuteten Wetter. Als aber das Wasser auch bis zur Kirche stieg, liefen die Leute davon und retteten sich auf die nahen Berge. Nur der alte Mesner blieb zurück und läutete noch.
Bald sah sich aber auch dieser in größter Gefahr und mußte
sich flüchten. Traurig schied er von der Kirche und sprach: "Meine
liebe heilige Ursula! ich kann dir nicht mehr helfen, jetzt mußt
du dir selbst läuten." Und horch, die Glocken läuteten
fort, voller und heller als je, ohne daß ein Mensch sie zog! Auf
ihren Wunderklang ließ der Regen nach, die Wolken verzogen sich,
das Wasser sank, und die Talbewohner stiegen wieder von den Bergen herab.
Aber das Tal war nicht mehr so schön wie früher, denn viele
Felsen waren seither nackt, und im Tal blieben Sand und Stein liegen.
Quelle: Zingerle, Ignaz Vinzenz, Sagen aus Tirol, 2. Auflage, Innsbruck 1891, Nr. 907, S. 524