DER WEIßE WURM

Auf der Mittewalder Alm im oberen Eisacktal war es vor Jahren nicht geheuer. Niemand wollte mehr für und um gehen, denn die Alm war voll giftigen Gewürms; die Würmer waren dick und lang wie Wiesbäume (Stämme zum Festmachen der Heufuder). Verirrte sich jemand dorthinauf, dann wurde er augenblicklich aufgefressen. Die Gemeinde zog von der Alm keinen Nutzen; ja sie fürchtete, die Schlangen könnten auch noch herunterkommen, denn hie und da hörte man schon von Mittewald aus das greuliche Pfeifen derselben.

Da kam eines Tages ein altfremdes Mannl daher, und als es vom bösen Gewürm hörte, trug es sich für eine große Summe Geldes an, es auszurotten; nur sollten sie ihm einen großen Holzstoß nahe bei der Alm aufrichten. Wenn aber eine weiße Schlange unter dem Gewürm sei, könne er nichts machen, das sollten sie ihm lieber frisch vorher sagen.

Keiner wollte eine weiße Schlange gesehen haben. Das Mannl ging also hinauf und viele Dorfleute hinter ihm her. Als das Holz in vollen Flammen stand, begann das Mannl die Beschwörung. Da wurde es lebendig auf der Alm, durch das dürre Gras heran rauschte es, unheimliches Pfeifen ertönte, und wie durch die Luft fliegend schossen die Würmer ins Feuer! Wütend schlugen sie in den Flammen herum, bis sie tot waren.

Auf einmal hörte man oben vom Joch her ein schauerliches Zischen, ganz verschieden von dem Pfeifen des übrigen Gewürms, und in Sturmeseile schoß ein weißer Wurm daher, schrecklich an Gestalt und Größe, und gerade auf den Banner los, und als dieser voll Entsetzen mit dem Ausrufe: "Ich bin des Todes!" sich ins Feuer stürzte, ringelte sich der Wurm ihm nach in die Flammen und verbrannte. Das böse Gewürm war nun ausgerottet, denn der weiße Wurm war der letzte unter dem Schlangengezücht gewesen, aber auch der Banner hatte sein Leben verloren.

Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 156 f.