Die zwei Ziegenböcke



Auf dem Betallerhofe wuchsen zwei Brüder mitsammen auf. Der ältere war gleichgültig und nahm Arbeit und Gehorsam nicht genau. Der jüngere hingegen war fleißig, gehorsam und die Freude seiner Eltern. Einst hüteten beide auf der steilen Bergwiese die Kühe in der Nähe der "Sellwand". Wie von ungefähr schritten zwei Ziegenböcke gemächlich über die Wiese daher mit ihren langen, dicken Hörnern. Der eine Ziegenbock hatte schwarze Haare, der andere weiße. Der ältere Bruder machte sogleich einen Vorschlag: "Auf diesen Böcken reiten wir heim! Ich reite auf dem schwarzen, weil er der stärkere ist und du auf dem weißen!" Gesagt, getan! Der weiße Ziegenbock trug ohne Widerstreben den jüngeren, braven Knaben hinüber zum entlegenen Heimathof. Das war ein Ritt, wie er ihn noch nie erlebt hatte!

Der schwarze Bock jedoch rannte wie gehetzt die entgegengesetzte Richtung hinaus und stürzte in die Tiefe. Unten stellte er den lockeren Knaben auf dem Boden nieder. Von dem Tage an kehrte der Knabe nicht mehr heim und blieb für immer verschollen. Dort, wo der schwarze Bock ihn niedergestellt hatte, sieht man heute noch die Abdrücke der groben Bergschuhe im Felsen eingedrückt.

Quelle: Die Kartause Allerengelberg im Schnalstal, Rudolf Baur, Bozen 1970, S. 103.