SELTSAME ERSCHEINUNG

In Mals waren zwei Nachtwächter; der eine rief vor, der andere nach Mitternacht aus. Einmal stürmte der Peter, einer der beiden Nachtwächter, in die Dachkammer des andern, namens Hiesl, und schrie: "Hiesl, steh auf und lös mich ab, es ist 12 Uhr!" Hiesl brummte: "Wozu der Lärm, ich höre dich ja!" "Na, aber hör, was mir heute begegnet ist", sagte der andere und stellte die Laterne auf Hiesls Gewandtruhe. "Kaum hatte ich 11 Uhr ausgerufen, da steht auf einmal jemand vor mir, als wäre er aus der Erde geschloffen. Wer's war, kann ich nicht sagen, denn die Gestalt ließ mich nie nahe kommen; sie war immer 20 Schritte voraus; ging ich, so ging sie auch, stand ich, so stand sie ebenfalls. Wie ich zu dir hergehe, geht sie vor mir her und ins Haus herein, die Stiege herauf, aber heroben sehe ich nichts mehr davon. Will sehen, was daraus wird." Hiesl zog sich verwundert an, und dann gingen sie beide miteinander hinab. Vor dem Haus trennten sie sich. Kaum war Peter allein, da ließ sich auch schon wieder die Gestalt sehen, ging vor ihm her, immer so gegen 20 Schritte voraus. Als er heimkam, ging sie vor ihm in sein Haus. Er erzählte es seinem Weibe, sie durchsuchten das Haus, fanden aber nichts. Am zweiten Tage darauf erkrankte Peter, nach drei Wochen starb er.

Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 465